Das Neurodiversum

„Am wütendsten bekämpfen diejenigen die Barbarei, die über die eigene nur ein dünnes Mäntelchen gezogen haben.“

Der Satz trifft Amigdala Pelzfuß unvorbereitet. Am Nebentisch sitzt ein Pärchen, dessen Mündern Blasen entweichen, die einen halben Meter über den Köpfen der beiden einen wilden Tanz aufführen. Seine gleichen dicken bunten Hummeln. Die der Frau klackern wie Glitzerperlen. Stoßen die Blasen zusammen, gibt das ein Geräusch, als ließe man ein frisch gewaschenes Baby in einen Topf mit Vanillesoße plumpsen. Amigdala möchte sich strecken und eine von ihnen fangen und kosten, doch das scheint ihr unschicklich. Sie hat noch nie jemanden etwas Derartiges tun sehen, und ihr gutes Benehmen ist die Summe verschiedener Nachahmungen.

Amigdala betrachtet ihr Gegenüber. Wie ein Figürchen auf einem in der Ferne vorüberfahrenden Ausflugsdampfer. Sie widersteht dem Drang ihm zuzuwinken. Da ist ja nur die Tischplatte zwischen ihnen, keine sich sanft durch die Bugwellen kräuselnde Wasserfläche.

„Am wütendsten bekämpfen diejenigen die Barbarei, die über die eigene nur ein dünnes Mäntelchen gezogen haben.“

Amigdala packt den im Wind davonflatternden Satz beim letzten Buchstaben und zieht ihn zurück in ihr Gesichtsfeld, betrachtet ihn eine Weile in der Hoffnung, ihr möge etwas dazu einfallen. Es gibt sogar eine passende Redewendung. Etwas mit einem Hahn. Sie fällt durch eins der Löcher aus Amigdalas Kopf. Mit dem losen Auge sieht sie noch, wie der prächtige Gockel über die Schrunden des Landes davon hopst. Da ist ja die Kiste mit den Antworten. Amigdala nimmt eine nach der anderen auf und schmeckt sie langsam in ihrem Mund.

„Haste was, dann biste was“, sagt sie schließlich zu dem Mann, der die Salz- und Pfefferstreuer von den Tischen räumt, um sie mit einem flauschigen rosa Lappen abzuwischen. Amigdala Pelzfuß wirft sich ihr dünnes Mäntelchen über und schreitet unter dem Nachthimmel dahin. Immer einen Fuß vor den anderen.