„Was denkst du?“, fragte sie ihn leise und kraulte ihm von hinten den Nacken.
Er saß am Schreibtisch und verbarg das Gesicht in den Händen. Langsam drehte er sich zu ihr um; er sah aufgewühlt aus.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, wie ich es angehen werde. Das Poem, das ich schreibe, ist doch komplexer, als ich ursprünglich angenommen habe.“
„Ich weiß gar nicht, warum du immer so ein Gedöns um die Texte machst“, sagte sie mit einem spöttischen Unterton in der Stimme, „es ist ja nicht, als würde die Welt nur darauf warten, sie zu lesen. Wie viele Leser hast du so durchschnittlich? Vier? Fünf?“
„Elf“, antwortete er matt. „In guten Wochen sind es auch schon mal zwölf.“
„Na, dann lass mal hören, was du hast!“
Er atmete tief ein und begann:
„Inmitten des wirbelnden Sturms aus Menschheit und Glauben,
stand Bartholomäus als ein vergessener Dämon aus uralten Gräbern.
Sein Gesicht gezeichnet von gebrochenen Träumen, die Narbe wie ein Fluch,
tief in die Haut eingebrannt, das Zeugnis unendlicher Schlachten.
Die anderen Jünger raunten den Spitznamen ‚Der schlampige Apostel‘
hinter vorgehaltener Hand, eine Mischung aus Spott und Bewunderung.
Doch tief in seinem Inneren schmiedete Bartholomäus,
ein Meister des Schattenspiels, verborgene Pfade der Dunkelheit.
Wenn Jeeze, der Anführer, seine göttliche Melodie anstimmte,
fühlte sich Bartholomäus tief berührt.
Seine Augen Spiegel der Verzweiflung, Tore in die Abgründe des Seins,
Die glühenden Worte des Herrn, durchdrangen sein Herz.
So wurde Bartholomäus, der Mann mit der Narbe, zum Schattenkönig,
der im schweigenden Tanz der Dunkelheit die Fäden des Schicksals zog.“
Inzwischen hatte sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht und die Augen geschlossen. Ihr Mund stand offen, sie atmete regelmäßig.
„Schläfst du etwa?“, fragte er halb belustigt, halb enttäuscht.
Sie schreckte hoch wie ein übernächtigter Fernfahrer auf der Autobahn und fuhr sich durchs Haar.
„Nein, Quatsch, ich habe alles gehört. ‚Fäden des Schicksals‘ und so.“
„Hat es dir denn bis jetzt gefallen?“
Sie wand sich. „Doch. Hat schon was.“
Er nickte zufrieden.
„Ich muss noch herausarbeiten, woher die Narbe stammte. Und wie er seine Schlampigkeit immer nur vortäuschte, um bei den anderen Jüngern und der Nachwelt nicht als ‚das Narbengesicht‘ in Erinnerung zu bleiben. Quasi eine künstliche, aber besser zu kontrollierende Schwäche. Und wie Jeeze, der Anführer, das natürlich alles durchschaut und denkt: ‚Ach, wenn sich irgendwann überhaupt noch jemand an Bartholomäus erinnert, kann er froh sein.‘ Natürlich gütiger. Hey, jetzt schläfst du aber wirklich!“
Und sie antwortete nicht mehr. Er legte ihr eine Decke über und verließ auf Zehenspitzen die Szenerie.