Impulswahl

„Melanchthon, Melanchthon! Wenn du so weiter machst, wird es dir noch übel ergehen. Wer die Mütze am Sims liegenlässt, ist für Erquicklichkeiten nicht bereit und muss irreale Werte am Zahlenstrahl einzeichnen. Das ist keine Strafe, sondern die natürlich gewachsene Frucht der Tat. Schmeckt sie dir nicht, so bedenke hinkünftig dein Handeln zur rechten Zeit, anstatt jetzt, wo es zu spät ist, mit Geheul und Zähneknirschen dein Leben zu vertrödeln. Das Gespräch wird zu Schulungszwecken aufgezeichnet. Wenn du damit nicht einverstanden bist, drücke bitte die Vierhundertzwölf.“

Voller Unbehagen starrte Spartakus Pelzfuß auf die Wählscheibe seines Telefons. Einen Versuch war es allemal Wert. Drei Mal hintereinander steckte er den zitternden Zeigefinger in die entsprechenden Löcher und drehte die Scheibe. Ein leises Knattern, dann ein Knacken. Die Leitung war tot.

Seit er vor einigen Monaten bei einer anonymen Meinungsumfrage in einem Moment der Leichtfertigkeit alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet hatte, begann sein Leben, sich zum Schlechten zu wenden. Zuerst hatte er es für eine Aneinanderreihung von unangenehmen Zufällen gehalten und sich weiter nichts dabei gedacht. Das Fernsehbild hatte zu rieseln begonnen und in den Lebensmittelgeschäften waren die von ihm gewünschten Produkte ausverkauft oder nicht mehr im Sortiment. Zahnarzt und Friseur waren auf Monate hin ausgebucht und beim Amt zog er Wartenummern im Hunderterbereich, obwohl nur drei oder vier Leute auf den Plastiksesseln im Vorraum saßen. Die Buslinie, mit der Spartakus seit Jahren ins Büro fuhr wurde eingestellt. Erst als im Rahmen einer ‚technischen Maßnahme an der Haustechnik‘ sein modernes Telefon gegen das Gerät mit besagter Wählscheibe ausgetauscht wurde, beschlich ihn der Verdacht, es könne eine Sache gegen ihn im Gange sein.

Kurz darauf war ihm ein mit fröhlichen Klebesternchen dekorierter Brief der Regierung zugestellt worden. Um das Jahr zu beenden, solle er eine Servicenummer anrufen, damit der für ihn zuständige Sachbearbeiter noch offene Vorgänge abschließen könne. Zahllose Versuche hatte er unternommen, doch eine Verbindung war nicht zustande gekommen. Er war verzweifelt bis in den kleinsten Knochen.

Der letzte Dezembertag ging seinem Ende zu, als Spartakus Pelzfuß den Hörer neben das Telefon legte, sein Bündel schnürte und leise in die Dunkelheit hinausschlich. Einem inneren Impuls folgend, setzte er einen Fuß vor den anderen. Er durchwanderte die Nacht bis zum Sonnenaufgang. Das Leben würde ohne ihn weitergehen. Da er nicht pfeifen konnte, stimmte er ein Trinklied an, das er einmal von seinem Vater gelernt hatte.