Rückruf

Händeringend verbringe ich meine Tage. Was ist, so frage ich mich andauernd, was ist, wenn meine bisher geschriebenen Texte, meine Gedichte, Stücke und Kurzgeschichten, was ist, wenn sie Mängel aufwiesen und alle Menschen, die jemals etwas von mir Geschriebenes gelesen haben, zu Recht erzürnt wären? Beziehungsweise sind. Immer noch sind. Mängel sind niemals ganz zu vermeiden und normalerweise fallen Mängel auch nicht weiter ins Gewicht. Was ist, so frage ich mich andauernd, wenn die Mängel in den Texten aber derart gravierend wären, dass selbst der wohlmeinendste Leser, die wohlmeinendste Leserin, sie nicht gütig überlesen könnten?

Nehmen wir nur die quantitativen Mängel: Nichts ist schlimmer, als wenn einem Leser, einer Leserin eine, sagen wir mal, Kurzgeschichte gut gefällt. Die Charaktere sind schlüssig, der Grundkonflikt deutlich, aber nicht zu deutlich erkennbar, die Sprache süffig und die Geschichte hört mittendrin auf. Hört einfach auf. Warum? Warum muss diese Geschichte jetzt schon zu Ende sein? Hat dieser Schriftsteller gar keinen Respekt vor dem Leser, vor der Leserin? Hält er sich für über die Konventionen erhaben? Pfui. Alle zu kurzen Geschichten von mir (und es sind einige) rufe ich hiermit zurück.

Eine von ihnen ist diese hier: ‚Ein Topf Gulasch stand auf dem Herd. Ein Stück Brot liegt auf dem Tisch. Eine junge Dame sitzt auf dem Klo und hat Verstopfung. Das Gulasch fängt schon an zu stinken, die Dame noch nicht und das Brot duftet köstlich. Das Brot fällt vom Tisch, die Dame erleichtert sich und das Gulasch ist angebrannt‘.

Aber sagte ich, nichts wäre schlimmer, als eine zu kurze Geschichte? Da habe ich wohl die zu langen Geschichten vergessen. Oder noch besser, die zu langen Stücke. Wenige Charaktere, die zu lange Texte sprechen müssen. Niemand schaut sich so etwas gerne im Theater an. Sitzfleisch ist wertvolles Gut dieser Tage. Und oben auf der Bühne reden Menschen und reden und reden und reden. Im Dunkel des Zuschauerraums kann man glücklicherweise gut Grimassen schneiden, wenn einem langweilig wird. Jetzt stelle man sich aber einmal Folgendes vor: Diese Texte, Stücke, Dramen, Dramolette wurden irgendwann auch einmal geschrieben. Meistens von mir. Nicht, dass ich behaupten möchte, alle zu langen Stücke der Weltgeschichte geschrieben zu haben, aber ein paar Hundert gehen schon auf meine Kappe.

Aber auch Prosa. Nehmen wir nur einmal den wortreichen Anfang dieser Geschichte: ‚An einem knochenheißen Samstagmorgen saß eine Eidechse im Schatten einer Spalte in einer Ziegelwand im Westjordanland. Die letzte Dämmerung hatte sie damit verbracht, Insekten zu jagen – Käfer und Schaben waren Delikatessen und in großer Zahl vorhanden. Jetzt war es fast 42 Grad in der Spalte und die Eidechse verdaute noch immer. Eine Gruppe von Männern in Uniformen und Anzügen kam an der Ziegelwand vorbei und während die Eidechse noch ihren Kopf wendete, um den Männern hinterher zu schauen, verwandelte sich einer von ihnen, es könnte Arafat gewesen sein, in eine Ziege. Kein Bock wohlgemerkt, sondern eine trächtige Ziege. Die anderen Männer sahen erstaunt auf ihn herab; er, der gerade zur Sie geworden war, wusste nicht wie ihm geschah, die Uniform fiel von ihm ab und als Ziege meckerte er verschüchtert. Die Männer waren ratlos, was sollten sie jetzt tun? Mit einer Ziege, noch dazu in diesem Zustand, konnten sie unmöglich weitergehen. Also beschlossen sie …‘ und so weiter und so weiter.

Diese Geschichte zieht sich über schätzungsweise 700 Seiten. Endlose Dialoge, wechselnde Perspektiven, noch viel mehr Beschreibungen von Echsen, Eidechsen, weitere Verwandlungen in domestizierte Tiere, mehr Ratlosigkeit, eine überraschende Wendung, eine logische Begründung, und am Ende eine Moral, nach der wir alle unsere Leben leben können – ich frage mich, wer will so etwas lesen? Ich jedenfalls nicht.