Literarisches

Ehrenamt Europa

By

Ein Gespenst geht um in Europa. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Am Zeitungskasten, genauer gesagt. Ich bin empfindsam gegen das Leid der Welt. Von einer ganzen Zeitung bekomme ich Sodbrennen. Allerdings, vom Gespenst wusste ich schon vorher. Donnerstags sucht es mich heim. Es rüttelt an meinen Zähnen und heult. „Kapital! Kapitaaaahaaahaaal! Hast du schon welches? Hast du, hast du, hast du, hast duhuhuhuuu welches?“ Dann piekt es mich mit knöchernen Fingern in den Bauch. „Sag, sag, sag, sag, sahahahaaag, hast du genug Kaaahaaahaapihiiihiiitaaahaahahaaal?“ Es springt auf meinen Rücken und zaust mir das Haar. „Man kann nie, nie, nie,…

Read More

Nachbarschaft in Räumen & Zeiten

By

In der Wohnung über meiner hustet der Nachbar fleckigen, flockigen Staub, ganze Brocken, ich höre es genau – ich stehe auf einer Klappleiter und ziehe mit einem weichen Bleistift Linien an der Zimmerdecke wo er läuft, verfolge seine Bahn. Man muss den jungen Leuten ihre Unrast nachsehen, was wissen sie schon von unserer Welt? Sie denken, die Menschheit habe gerade erst begonnen. Rückblende: Ein Ägypter poliert versonnen den goldenen Speichenschutz eines Streitwagens. „Ach! …“, seufzt er. „Unserer Welt fehlt es an Heldenmut, fehlt es an Helden, an Begebenheiten sich auszuzeichnen. Peitsche und Bier, Bier und Peitsche, das Leben ist trist…

Read More

Bartuneks Scheu vor der Leere

By

Kurz vor dem Morgengrauen erwacht Bartunek von seinem eigenen Ringen nach Atem. Schnell wie eine Fledermaus entweicht das Wesentliche aus ihm, umschwirrt noch ein, zwei Mal die Schlafzimmerleuchte, bevor es sich flach in eine der oberen Ecken des Raumes drückt. Wenig später drängt sich Bartunek zwischen den aufgerissenen Türen in den überfüllten Bauch der Bahn. Er bahnt sich seinen Weg, hinter einer Frau mit glatt zurückgebundenem Haar kommt er zum Stehen. Er atmet ihr ein Loch in den Nacken. Dazu braucht er nicht länger als eine Station. Ein Schwarm winziger Spatzen kommt aus dem Löchlein geflogen und hinterdrein hallen die…

Read More

Am Nacktbadestrand

By

Wie war das noch gestern? Wer war ich noch gestern? Die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind. Das Haar, das mir verblieb, wird langsam weiß; der Wind bläst warm mich kahl. Ich trage einen Schutzanzug und betrachte die Nackten und die Roten. Im Klartext heißt das wohl, dass nichts und noch ein bisschen weniger meinen Blicken verborgen bleibt. „Gestatten? Platten, Vertreter von Fuß- und Hängematten.“ „Angenehm, ich bin kahl.“ „Freut mich ihre Bekanntschaft zu machen, Karl.“ Und so zieht sich auch dieses Gespräch mal wieder endlos wie Teer. Ich bedauere sehr, es überhaupt angenommen zu haben. Ich schaue…

Read More

Der entmenschte Doktor Quarz und die anmutige Zanona

By

Eine Nebelkrähe und eine Saatkrähe vermag ich am Geräusch ihres Flügelschlags zu unterscheiden. Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte mich mein Vater bei einem Taugenichts in die Lehre. Sieben Jahre blieb ich bei ihm, einem älteren Herrn mit nervösem Tick am linken Auge. Ich litt unter Heimweh und seinem Gejammer über den Niedergang und die rohen Sitten. Jeden zweiten Montag schickte er mich auf den Markt im nahegelegen Städtchen zum Herumlungern. Ich langweilte mich schnell unter den vielen Menschen. So schlich ich mich oft davon, in ein schäbiges Viertel mit engen Gassen, fernab vom Trubel des Marktplatzes. Dort begegnete…

Read More

Das Blutgerüst

By

Ein anderer Tag, eine andere Baustelle. Die Bischöfin balanciert kleinfüßig auf dem Schafott: „Ich habe keine Sinne“, sagt sie. „Körper, Formen, Gestalt und Größe, meine Bewegung im Raum nur Illusion. Ich schaffe diese Dinge aus mir selbst, jedoch nie frei vom selbstmörderischen Zweifel an den Tagesabläufen.“ Ein Esel bleibt an ihrem Gerüst stehen, blickt zu der Bischöfin auf und sie fährt fort: „Das ist die Rache. Die Rache der Profanen an den Verfeinerten. Lasst sie Türme bauen, lasst sie auf Sand bauen, lasst ihre Türme in den Himmel ragen!“ Der Esel levitiert, denn er weiß es nicht besser. Kein Tag…

Read More

Ballsaison

By

Der Ballsaal füllt sich langsam zu beiden Seiten. In der Mitte wird noch Platz gelassen, denn vor dem Eröffnungstanz darf die Saalmitte nicht betreten werden. Nur Geraune ist zu hören, man will sich nicht zu früh hervortun. Die Logen zum Bersten gefüllt, wie von Maden befallene Austern. Brillanten und Kronleuchter klackern, Schweißperlen sammeln sich Achselhöhlen und bereiten Gestank vor. Hälse werden gereckt, voller Gier nach Häppchen und Spezereien. Wie zusammengetriebene Schafe reiben sich die Gäste im Foyer aneinander. Ungeduld wabert durch die Räume. Die Stimmung kann jederzeit kippen. Da spielt das Orchester einen Klimbim. Stille. Der Hufrat betritt klappernden Schrittes…

Read More

Mortui Non Mordent

By

Und frage nie nach den Hinrichtungen! Die fallen beinahe täglich an und niemand nimmt mehr Anstoß. So wird es gewünscht und alle halten sich daran. Neuankömmlinge kämpfen oft mit aufsteigender Magensäure, wenn sie den zart süßen Geruch, der die Straßen beherrscht, zum ersten Mal mit seinem Ursprung in Verbindung bringen. Unterdrücke das Würgen! Verdränge den Ekel! Nur so wirst du es hier zu etwas bringen. Oft sieht man Kinder, die mit Leichenteilen spielen. Das ist zwar verboten, aber den Kindern verzeiht man, wie in anderen Kulturen auch, einiges. Ein komischer Anblick, wenn sich zwei Kurze um ein Bein streiten, das…

Read More

Der Überfall

By

Ich war wild entschlossen, für immer auf dem Linoleumboden in meiner Diele sitzen zu bleiben. Den Rücken bequem an den Filzbelag der Wohnungstür gelehnt. Den Luftzug, der unter der Türritze hindurchwehte, ganz sacht durch meinen flauschigen Bademantel am Hintern spüren. Einmal die Woche den Zehnliter-Kanister mit Wasser aus der Leitung füllen und ihn dann im Laufe der Tage mit einem langen, neonblauen Partystrohhalm austrinken. Was das Pinkeln anging, vertraute ich auf die Saugkraft meines hochwertigen Fußabstreifers. Mein Ziel war, ganz mager zu werden und schließlich in den Frotteeschlaufen des Mantels zu verschwinden. Das behäbige Treiben der Staubmäuse würde mir ausreichend…

Read More