Ein Schlückchen Magie

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Die Pilger waren von der mehrtägigen Wanderung erschöpft, aber entschlossen, das Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Wilhelm und Abel, die stets zankenden Zwillinge, gesellten sich wieder zur Gruppe, nachdem sie Quartier im Pilgerort gefunden hatten. „Wisst ihr, wer der Herr der Herberge ist, die wir ausgesucht haben? Niemand anderes als der Ur-Ur-Ur-Großneffe zweiten Grades der Heiligen Cassilda selbst“ rief Wilhelm, der wie immer der Wortführer der beiden war, schon von Weitem. „Alles wird gut.“ Die Pilger staunten nicht schlecht und ein spürbarer Ruck ging durch sie. Ja, alles würde gut werden, Kraft durchfuhr sie und sogar die…

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Kein Ass im Ärmel

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Ein Uhr nachts. Die Uhr, ein steter Mechanismus, starrt mit einem einzigen, tickenden Auge von der Wand. Ich liege im Bett und zähle mehr als achtzig Risse in der Tapete. Ich träume. Erinnerungen an Erinnerungen wie vergilbte Fotos, zerfetzt und unvollständig. Ein Mann mit Hut, ein leeres Schachbrett, eine zerrissene Spielkarte mit dem Aufdruck „Kein Ass im Ärmel“. Der Mann teilt sie wieder und wieder aus. Ich hebe abwehrend die Hand. Zwei Uhr nachts. Ein schrilles Kichern dringt aus der Dunkelheit. Ich drehe den Kopf, sehe aber nichts. Ein Wassertropfen fällt von der Decke, landet auf meinem Gesicht. „Regen?“, frage…

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Ein neuer Panzer

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Ich hatte mal einen Freund, genauer gesagt, einen Bekannten, noch genauer gesagt war er ein berufsmäßiger Bettler vor dem Laden, in dem ich einzukaufen pflege, jedenfalls, und darauf wollte ich eigentlich hinaus, hatte ich ihn einige Wochen nicht mehr gesehen und allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen. Doch gestern Morgen, ich schloss gerade mein Fahrrad an den zu meinem Supermarkt gehörigen Fahrradständer, kam mein Freund, Bekannter, also der Bettler Kalle, mit Getöse, Gerappel und Geknatter, quietschend und rasselnd, in einem offenen Schützenpanzer auf dem Gehsteig angefahren. Das Brummen und Dröhnen ließ die Passanten sich die Ohren zuhalten; ein…

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Der späte Hermann

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Nicht nur, dass das Ende der Welt greifbar und immanent zu sein schien, die vor vielen Jahrzehnten prophezeiten Wetterextreme waren nicht mehr seriös zu leugnen. Zwar gab es immer wieder Bequeme, die sich die Freuden und Früchte der Arbeit ihrer Vorfahren nicht nehmen lassen wollten, und es waren einige, aber auch ihnen fiel es zunehmend schwer, über die immer länger andauernden Dürreperioden, die Wirbelstürme, die Hitze oder die Schlammlawinen hinwegzulächeln und sich das sommerabendliche Grillgut unbarft schmecken lassen zu können. „Verzicht ist doch auch nur so ein neo-puritanischer Kampfbegriff. Warum wir uns die Stimmung nicht vermiesen lassen? Weil wir’s können…

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Kein Problem

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Iris hasst den Weg zur Praxis. Treppenstufen in nahezu unendlicher Anzahl, der Geruch von ranzigem Bohnerwachs, das Knarren der Dielen im Gang stoßen sie fast magnetisch ab. „Ah, Frau Gleichen, Sie sind spät dran heute. Na, erzählen Sie mal! Was ist denn das Problem?“ In der schattenverhangenen Praxis ist es stickig vom aufwirbelnden Staub der Behandlungscouch und der Decke, die zwar frischgefaltet ist, die aber den Geruch von Katzenurin ausdünstet. Die Katze selbst wird stundenweise ins Nebenzimmer gesperrt. Iris entfernt wie immer, wenn sie hier ist, dünne Haare vom Überwurf. „Kein Problem. Ich lebe, wenn Sie das meinen. Zu meckern…

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Lux oder Lumen

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In einem Vorstadttheater trifft sich der harte Kern der ortsansässigen Laienspielgruppe. Die drei Gründungsmitglieder Erebos, Lykeios und Rita, sitzen nebeneinander in der zweiten Reihe im leeren Saal des Zuschauerraums, starren auf die Bühne und nippen an süßen Limonaden. Die volle Blase zwingt Lykeios, eilig seinen Platz zu verlassen. Rita rückt einen Sitz weiter zu Erebos und flüstert: „Sollen wir einen Blick in seinen Entwurf werfen? Er macht ein Riesengeheimnis um den Text. Lass uns doch mal schauen, was er schon geschrieben hat!“ Erebos ist einverstanden. Rita liest mit gesenkter Stimme: „Okay, aber ich kann seine Sauklaue nur schwer entziffern. ‚Im…

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Das Gossenmaul

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**DISCLAIMER** Dieser Text enthält Sprache und Ausdrücke, die als anstößig oder unangemessen empfunden werden könnten. Die enthaltene Sprache dient einem spezifischen Zweck und soll bestimmte Charaktere, Situationen oder kulturelle Hintergründe authentisch darstellen. Ich empfehle, dass unbedarfte oder empfindliche Leser und Leserinnen diesen Text mit Vorsicht rezipieren. Die hier geäußerten Ansichten und Aussagen spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten des Autors oder der Herausgeberin wider: Sybille ist nicht so wie wir. Für Sibylle sind wir die Anderen. Sybille wollte nie eine von den Anderen sein. Sybille ist praktisch unsichtbar. In der Regel beachtet man sie nicht, wenn sie vor der U-Bahnstation sitzt….

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Die Pechtrommel

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Bambule und Kassalla, die lustigen Zwillinge, sitzen auf einer Bank vor dem alten Schulgebäude und essen Kirschen aus einer Papiertüte. „Erinnerst du dich“, kommt Bambule ins Schwelgen, „als wir dem altem Mann damals geholfen haben?“ „Ich erinnere mich gut“, erwidert Kassalla, die etwas jüngere der beiden Schwestern, und spuckt den Kirschkern im hohen Bogen ins Gebüsch. „Und an seine Trommel auch, dieses Riesending mit den fiesen Federn. Wie ranzig der Alte in ihr gerochen hat.“ Bambule zuckt mit den Schultern. „Was bei dem wie gerochen hat, will ich gar nicht so genau wissen.“ Kassalla kichert bis sie sich am Kirschsaft…

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Jahrmarkt der Möglichkeiten

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Als der Jahrmarkt in unserer kleinen Stadt gastierte, kam mein Freund Jochen morgens unter mein Fenster und rief: „Daniel, Daniel, der Jahrmarkt ist endlich da, der Jahrmarkt ist der heiße Scheiß!“ So redeten wir damals und kamen uns weltgewandt und abgeklärt vor. Aber Jochen hatte vollkommen recht: Der Jahrmarkt war der heiße Scheiß. Wir Kinder hatten schon seit Tagen mit sehnsuchtsvollen Augen vor den Plakaten an der einzigen Litfaßsäule des Ortes gestanden und uns gefragt, wann endlich der siebte Juni, der Premierenabend, sein würde. Und was das bunte Plakat nicht alles verhieß … ‚Gummo, der Mann aus Kaugummi‘ fesselte unsere…

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Ein Zweizack ist die Lösung

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Dieter stand, wie immer freitags in seiner letzten Mittagspause der Woche, am Bistrotisch seines bevorzugten Schnellimbisses und stocherte mit der Holzgabel in den übriggebliebenen Pommes Frites in dem Pappschälchen vor ihm. Kollege Karel aus der Abteilung Vertrieb, gesellte sich zu ihm, in der linken Hand balancierte er sein eigenes Schälchen, mit der rechten hielt er einen etwa beinlangen, vorne spitz zulaufenden Stahlprügel umklammert. „Was ist das denn für ein komischer Speer?“, fragte Dieter und nahm einen tiefen Schluck aus der Limonadenflasche. „Das ist kein Speer. Das ist mein Zweizack.“ „Hm, davon habe ich ja noch nie gehört. Und außerdem hat…

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