Kurzgeschichten

Der Nachruf

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Kaum-Ich: Hast du den Nachruf schon geschrieben? Nicht-Ich: Der liegt seit gut fünf Jahren druckfertig in meiner Schublade und wartet nur auf seine Veröffentlichung. Kaum-Ich: Dann kann es ja losgehen. Beziehungsweise enden. Den Anfang vom Ende haben wir bereits hinter uns gelassen. Und durchqueren gerade den Schluss der Mitte vom Ende. Nicht-Ich: Es scheint fast, als wolle der HErr ihn nicht bei sich haben. Kaum-Ich: Ich glaube nicht, dass der HErr nach traditioneller Lesart viel mit ihm zu tun haben wird. Nicht-Ich: Dann ist es vielleicht der Herr der höllischen Wehklagen, der es durchaus noch abwarten kann, ihn an seiner…

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Höllischer Abend

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Obwohl ich nach dem Duschen meine Füße mit glitzerndem Kunstschneepulver eingesprüht habe, bin ich nicht in festlicher Stimmung. Bräsig breiten sich die Feiertage der Christenheit über Wochen und Monate im Jahreskreis aus, so dass einem kaum Platz zum Atmen bleibt, geschweigedenn für wilden Tanz und Orgien. „Machen Sie doch! Wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft“, ruft mir meine Nachbarin zu. Sie trägt trotz der sommerlichen Temperaturen eine Weihnachtsmütze und der Schweiß läuft über ihr Gesicht, als sie einem zu grauem Klump zusammengeschmolzenen Schneemann die Rübennase zurechtrückt. Sie beugt sich über den Topf mit kahlem Zierklee und betrachtet neugierig meine…

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Der Stift

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Es gibt ein Problem mit diesem Stift. Er schreibt, was er will. Das war zwar das Verkaufsargument, als ich ihn kaufte – er war nicht gerade billig – und anschließend einigermaßen stolz nach Hause trug, aber ich hatte dem Verkäufer im Grunde misstraut, denn zu oft war ich in ähnlichen Situationen bereits enttäuscht worden. Ich habe in meiner Wohnung mehrere Kisten mit Dingen, die nicht das tun, was ich mir zum Zeitpunkt des Erwerbs von ihnen erhofft hatte. Aber dieser Stift funktioniert wirklich phänomenal. Und darin liegt das Problem: Wie kann ich Texte, die er quasi ohne mein Zutun verfasst,…

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Das ist ja ein Delirium

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Es gibt diese Tage, da wacht man morgens auf und kann die eigenen Hände nicht erreichen. Sie schaukeln in weiter Ferne an dünnen Armen, während man selbst zuhause sitzt und sich den Schlaf nicht aus den Augen reiben kann. „Kommt zurück!“, will man ihnen zurufen, aber durch den zugeschwollenen Hals entweicht nur eine sanfte Brise und die Hände schaukeln noch ein bisschen mehr. Kleine Stücke Erinnerung wagen sich hervor aus dem zähen Gehirn, wohlwissend, dass man sie nicht greifen kann. Eine aus Harzer Käse geschnitzte Deutschlehrerin mahnt mit erhobenem Zeigefinger, man dürfe Sätze nicht mit „Und dann …“ beginnen, wenigstens…

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Das ‚alte Normal‘

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Erzählt mir nichts vom ‚alten Normal‘. Ich will nichts hören über das ‚alte Normal‘. Stattdessen will ich von mir erzählen, denn ich warte schon so lange, warte, dass es endlich losgeht. „Du hast wohl den Schuss nicht gehört“, sagt man mir, doch das stimmt bekanntlich nicht, habe ich doch bereits sehr früh im Leben den Schuss gehört, ja, hören müssen, der auf mich abgefeuert worden war. Zuvor waren mir rechts drei Kinderrippen gebrochen worden – niemand weiß mehr, wie – oder ich lag mit mir selbst zugefügten Vergiftungen im Krankenhaus; meine schweren Verbrennungen – ein Unglück, wird sich bis heute…

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Fragen Sie mich bloß nichts!

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Als moderner Mensch muss man immer und jederzeit über alles Bescheid wissen. Mir lag das Modernsein schon in der Wiege. Bereits mit wenigen Monaten vermochte ich in ganzen Sätzen zu sprechen und fragte meinen Eltern Löcher in den Bauch, aus denen lebenswichtige Organe austraten. Das brachte ihnen einen frühen Tod und ich wuchs fortan im Nasewaisenhaus auf, wo ich aus Sicherheitsgründen nur sprechen durfte, wenn mich jemand etwas fragte. Da ich selbst entsetzt über die Angelegenheit war, kam mir das Schweigen entgegen, wollte ich doch keine weiteren Todesfälle herbeiführen. Traurig war ich dennoch, denn mein Berufswunsch war Quizmistress gewesen. Das…

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Die Feder ist mein Gewehr

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Im Voraus sollte beachtet werden, dass an den Tagen, die dem dichterischen Lebenswerk gewidmet sind, also an allen Werktagen, die Farbe Rot für Kleidung absolut tabu ist. Ferner sollten Räume gemieden werden, in denen Vögel gezüchtet werden bzw. wurden. Vögel, und das wird jeder Ornithologe bestätigen, sind oft Boten für Dämonen und böse Geister. Ich finde es in diesem Zusammenhang durchaus erwähnenswert, welches Amüsement mich überkommt, wenn ich an die zahllosen Passanten denken muss, die an harmlos anmutenden Vogelgruppierungen vorbei schlendern, womöglich einen Moment innehalten und sich am Anblick erfreuen, womöglich die pickenden Gesellen zum Anlass nehmen, um über die…

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Veränderungen

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Als Kind plagten mich andere Sorgen und Nöte als heute. Niemals sprach ich diese Sätze über Fischers Fritz oder die langsame Kellnerin nach, aus Angst vor einer gebrochenen Zunge und die Furcht vor der Pest raubte mir den Schlaf. Orangenhaut fand ich hingegen begehrenswert, denn ich mochte es wohlriechend und farbenfroh. Nun warte ich gespannt auf das Alter, das gewiss neue Ängste für mich bereithält und mich über die heutigen lächeln lassen wird. „Wer will schon zweiundachtzig werden?“, fragt meine Nachbarin, eben erst alt genug, um wichtige Dokumente zu unterzeichnen. „Jemand, der einundachtzigeinhalb ist“, gebe ich ihr zur Antwort, bevor…

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Innen wie Außen

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Es herrscht herbstliche Schwüle. Auf Polstern gebettet, auf Rosenblättern, unter Hypnose dem Dämon in die Augen geblickt: Trau, schau, wem! Du sagst: „Als Kind hat man keine Alternative zum Vertrauen, ist man doch auf alles und jeden angewiesen. Jedes noch so furchtbare Lächeln ein Anker und fruchtbarer Acker, jedes Lächeln eine Wurzel. Jeder Halm ein Mast, jedes Blatt gehisstes Segel. Der Wind rauscht über wogende Ähren – der Wind ist immer Singular.“ Wir gleiten durch Glockengeläut, novemberliche Spatzenaktivität, auf der Suche nach Wasser und Krumen, nach Schatten. Du legst eine kühle Hand auf meine pochende Stirn, schirmst mir die Augen…

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Versprochen

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Ich halte nicht viel von Schwüren. Sie erwecken den Eindruck, man müsste sich in einer bestimmten Sache nicht mehr entscheiden und sei für alle Zeit vor Veränderungen sicher. Götter, Mütter und das Leben müssen als Beschworene herhalten, einzig damit der Schwörer keine lästigen Fragen mehr beantworten muss oder bei Gericht einen seriösen Eindruck machen kann. Schwören gilt gemeinhin als Zeichen von gefestigtem Charakter und wer es ablehnt, wird beargwöhnt. „Die will sich nicht festlegen!“ oder „Der möchte nicht für seine Lügen einstehen!“, rufen die Freunde des Eides dann und müssen aufpassen, dass ihnen dabei der Geifer nicht vom Kinn rinnt….

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