Kurzgeschichten

Veränderungen

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Als Kind plagten mich andere Sorgen und Nöte als heute. Niemals sprach ich diese Sätze über Fischers Fritz oder die langsame Kellnerin nach, aus Angst vor einer gebrochenen Zunge und die Furcht vor der Pest raubte mir den Schlaf. Orangenhaut fand ich hingegen begehrenswert, denn ich mochte es wohlriechend und farbenfroh. Nun warte ich gespannt auf das Alter, das gewiss neue Ängste für mich bereithält und mich über die heutigen lächeln lassen wird. „Wer will schon zweiundachtzig werden?“, fragt meine Nachbarin, eben erst alt genug, um wichtige Dokumente zu unterzeichnen. „Jemand, der einundachtzigeinhalb ist“, gebe ich ihr zur Antwort, bevor…

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Innen wie Außen

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Es herrscht herbstliche Schwüle. Auf Polstern gebettet, auf Rosenblättern, unter Hypnose dem Dämon in die Augen geblickt: Trau, schau, wem! Du sagst: „Als Kind hat man keine Alternative zum Vertrauen, ist man doch auf alles und jeden angewiesen. Jedes noch so furchtbare Lächeln ein Anker und fruchtbarer Acker, jedes Lächeln eine Wurzel. Jeder Halm ein Mast, jedes Blatt gehisstes Segel. Der Wind rauscht über wogende Ähren – der Wind ist immer Singular.“ Wir gleiten durch Glockengeläut, novemberliche Spatzenaktivität, auf der Suche nach Wasser und Krumen, nach Schatten. Du legst eine kühle Hand auf meine pochende Stirn, schirmst mir die Augen…

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Versprochen

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Ich halte nicht viel von Schwüren. Sie erwecken den Eindruck, man müsste sich in einer bestimmten Sache nicht mehr entscheiden und sei für alle Zeit vor Veränderungen sicher. Götter, Mütter und das Leben müssen als Beschworene herhalten, einzig damit der Schwörer keine lästigen Fragen mehr beantworten muss oder bei Gericht einen seriösen Eindruck machen kann. Schwören gilt gemeinhin als Zeichen von gefestigtem Charakter und wer es ablehnt, wird beargwöhnt. „Die will sich nicht festlegen!“ oder „Der möchte nicht für seine Lügen einstehen!“, rufen die Freunde des Eides dann und müssen aufpassen, dass ihnen dabei der Geifer nicht vom Kinn rinnt….

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Die Bibelleserin

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Die Bibelleserin liest Verse und bewegt dazu im Takt die Lippen. Die Fältchen um die Oberlippe wippen und zittern erregt vom Wort; die Leserin nickt und atmet schwer. Aus den Höhen des heiteren Himmels springt sie mit einem Mal auf, fast hätte sie vergessen auszusteigen, hastig schließt sie das Buch, den Reißverschluss des ledernen Schutzumschlags. Die U-Bahn hält mit quietschenden, mit fauchenden Bremsen; die Bibelleserin ist allergisch gegen Lautstärke und lässt in größter Anspannung die Kiefermuskeln spielen. „Wer mag der Herr wohl von dieser U-Bahn sein“, ruft ihr ein Flegel hinterher, an der Leserin perlt es ab.

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Andere Zeiten

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„Da laust mich ja der Affe!“ ist ein Satz, den ich in meiner Kindheit häufig zu hören bekam. Besonders meine Tante Mariedl rief ihn bei jeder auch noch so kleinen Überraschung aus und schlug dazu die Hände über dem Kopf zusammen, dass die dünnen, goldenen Armreifen an ihren Handgelenken klimperten wie die Glöckchen des Christkinds. Mariedl, stets aufgetakelt, als wollte sie zum Karneval in Rio, hatte gewiss ihr Leben lang keinen Affen zu Gesicht bekommen, denn sie stammte aus einem Dorf am Hang eines finsteren Tals und vom Reisen wurde ihr übel. Ich hingegen wurde von meinen unternehmungslustigen Eltern bald…

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Du & Ich-Ich-Ich

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In den letzten Zügen gelegen, im ersten Zug gen Süden gesessen, durch Tunnel, über Brücken, überbrücke ich Unzulänglichkeiten mit Anzüglichkeit – die Uhr bleibt stehen, die Zeit will nicht vergehen, zerrinnt stattdessen wie Fußspitzen vor müdem Blick. Knie wund und (was fast noch schlimmer ist) Rücken rund vor Kümmernis. Du bist anders als die anderen, denn du bist ausgedacht, setzt dich zusammen aus allen, die ich jemals kannte, ich nannte dich wohl zwanzigmal die Eine, du bist das Meine, du bist ich, gespiegelt im Ich Liebe Dich. Ich bin die Luft zum Atmen, sagst du, doch wer bin ich denn,…

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Das falsche Wort

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Eigentlich wollte ich Ihnen von Zeloten erzählen. So ein lustiger, kleiner Text sollte das werden, wo drinsteht, dass ich als Kind dachte, Zeloten seien Piloten in Zeppelinen oder kleine Staubkatzen, die wegen dem Putzfimmel der Menschheit vom Aussterben bedroht sind oder dass ich meiner Großmutter immer bei der Zelotenernte helfen musste und es danach wochenlang nur Zelotenmarmelade gab, die zwar appetitlich rot war, aber für meine Kinderzunge ein bisschen bitter schmeckte, so wie das ganze Leben. Sie hätten gelacht, so wie man eben lacht, wenn jemand ein Wort nicht richtig benutzt und das Wochenende wäre geritzt gewesen. Aber ich muss…

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Zeit

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Mein Tag dauert 365 Jahre, mein Tag fliegt vorbei; ich habe mich verzählt, die Augen auf und wieder zu. Gerade liegen die Kinder noch in meinen Armen, sitzen auf dem Schoß & machen Hoppe-Hoppe-Reiter, dann Abitur, unternehmen Reisen, fahren bald Auto, sind eigene Menschen. Ich strecke mich, alle Momente vergangen, verflüchtigen sich, sind steter grüner Nebel. Das Leben ist anders, dachte ich und jeder Augenblick wär um ein Haar die ganze Ewigkeit (und zwei Tage, die du streichen dürftest). „Wenn du sagst“, sagst du, „ich dürfe zwei Tage streichen, frage ich, zerreißt das nicht das Gewebe der Zeit für mich…

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Dazwischen

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Lange bevor der Wecker klingelt, klopft es an meiner Wohnungstür. Zuerst denke ich, die Nachbarin über mir trommelt einmal mehr gegen die nächtliche Stille an, aber das Klopfen ist fröhlich und beschwingt. Ich will mir die Bettdecke über den Kopf ziehen, doch ein dicker Hund liegt auf dem unteren Zipfel und macht sich murrend extra schwer. Seufzend setze ich mich auf. „Was ist denn?“, frage ich an der Tür. Eine fremde Stimme fragt zurück: „Wie wünschen Sie sich Ihren Tod?“ Ich habe einen altmodischen Wecker, der stolz zwei messingfarbene Schellen auf seinem Haupt trägt. Fast möchte ich sagen, der Wecker…

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Adel vergeht

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Der Adel ist mir zuwider. Und das, obwohl ich selbst eine Prinzessin war. Ich weiß, man sieht es mir nicht an. Die Knochen sind zu klobig und mein Teint gleicht eher einer alten Holzschüssel als feinem Porzellan. Aber wenn Sie es nicht zu genau nehmen, sieht mein Kinn nach Habsburg aus. Als ich noch ein Kind war, kutschierte mich der Großvater in einer knallroten Karosse über meine Ländereien. Nichts Besonderes freilich: Ein krummes Tal mit grauscharf gezackten Rändern am Übergang zum Himmel, durchschnitten von einem Fluss, dessen Wasser sich scheinbar träge und zäh durch sein Bett wälzte. Unter der meist…

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