Kurzgeschichten

Mortui Non Mordent

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Und frage nie nach den Hinrichtungen! Die fallen beinahe täglich an und niemand nimmt mehr Anstoß. So wird es gewünscht und alle halten sich daran. Neuankömmlinge kämpfen oft mit aufsteigender Magensäure, wenn sie den zart süßen Geruch, der die Straßen beherrscht, zum ersten Mal mit seinem Ursprung in Verbindung bringen. Unterdrücke das Würgen! Verdränge den Ekel! Nur so wirst du es hier zu etwas bringen. Oft sieht man Kinder, die mit Leichenteilen spielen. Das ist zwar verboten, aber den Kindern verzeiht man, wie in anderen Kulturen auch, einiges. Ein komischer Anblick, wenn sich zwei Kurze um ein Bein streiten, das…

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Der Überfall

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Ich war wild entschlossen, für immer auf dem Linoleumboden in meiner Diele sitzen zu bleiben. Den Rücken bequem an den Filzbelag der Wohnungstür gelehnt. Den Luftzug, der unter der Türritze hindurchwehte, ganz sacht durch meinen flauschigen Bademantel am Hintern spüren. Einmal die Woche den Zehnliter-Kanister mit Wasser aus der Leitung füllen und ihn dann im Laufe der Tage mit einem langen, neonblauen Partystrohhalm austrinken. Was das Pinkeln anging, vertraute ich auf die Saugkraft meines hochwertigen Fußabstreifers. Mein Ziel war, ganz mager zu werden und schließlich in den Frotteeschlaufen des Mantels zu verschwinden. Das behäbige Treiben der Staubmäuse würde mir ausreichend…

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Habakuk

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„Wie lange soll ich schreien, und niemand will mich hören? Entschuldige, Herr, ich frage ja nur und wollte nicht stören.“ Habakuk, Einmaliger und Prophet aus Leidenschaft, hatte sich, als er einst den Organspendeausweis ausfüllte, sicherlich nicht vorstellen können, dass ich einmal Besitzer seiner Seele, seiner einzigartigen Seele sein würde. Es geht Gewalt über Recht und falsche Urteile ergehen täglich. Diesen Frevel vor Augen, die ab einem gewissen Punkt Spiegel seiner Seele wurden, betrachte ich das Weltgeschehen. Die Transplantation war notwendig geworden, da ich durch gewisse Umstände in meinem Leben, die ich nicht näher beleuchtet wissen will, meine schon löchrige und…

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Das Kind

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Im Gegensatz zu den Frauen aus Rundfunk und Fernsehen, bekam ich das Kind nicht unter Schmerzen, wie der Herr es angeordnet hat. Es saß eines Morgens am Küchentisch, als sei es aus einem Werbefilm für arisches Dauerbrot geflohen. Einzig der bis zum zweiten Gelenk ins Nasenloch gebohrte Zeigefinger verlieh ihm etwas Menschliches. Dass ich nichts mit dem Jungen anzufangen wusste, ist meiner Egozentrik und Introvertiertheit geschuldet. Achselzuckend meldete ich ihn an einer gewöhnlichen Schule an. Er steckte voller Klugheit und Neugier, was ihm dort nicht auszutreiben war. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an ihn und er übergoss mich mit…

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Die Zeit ist trügerisch, hält nie, was sie verspricht

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In der Prinzessinnenvariante des Schneidersitzes, die Knöchel gekreuzt, werden Stoffe geschnitten, bestickt, beklebt, in neue Form gebracht, vernäht. Manchmal etwas Warmes für die kalten Stunden, meist kleine Kleider für Bären oder Puppen. Eine Fliege landet auf der arbeitenden Hand, mit hellem Stimmchen spricht sie furchtlos: „Das Leben geht weiter. Die Zeit heilt alle Wunden.“ Und Ähnliches und immer mehr. Man kennt so Tierchen ja – die Verlegertochter Dora Duncker hatte auch nie Zeit, hetzte von Termin zu Termin und murmelte Sätze wie: „Ich fühle mich am Anfang eines Verbrechens“ und „Ich sollte zu denen gehören, denen Aufschub gewährt wird bis…

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Die Feige

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Die Nacht ist mir auf den Kopf gefallen. Mit einem Schlag dunkelt es. Davor fürchte ich mich nicht. Es gibt immer einen guten Grund ein Feigling zu sein. Einmal hatte ich Wichtigeres zu tun. Ein ander Mal machte ich mir Sorgen um meinen guten Ruf. Oder war es ein behagliches Leben? Wenn er mich gebeten hätte. ‚Sei kein Feigling, bitte!‘ Von hier oben sieht das Städtchen ganz freundlich aus. Die Hügel am Horizont, davor eine Ebene – ich würde gerne sagen, es sei eine Steppe. Ich schätze Übersichtlichkeit. Deshalb gefällt es mir gut, dieses Haus mit dem Türmchen, am Hang eines Weinbergs. Die Straße zum…

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Die Fahrt

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Ich durchschreite ein Meer aus Licht, ein Mehr an Wissen, durchwate Untiefen und warte auf Erleuchtung. Ich erwarte, dass ein Stern mir scheint, sich über mich ergießt. Dass alles, was stockt, fließt, dass jeder Nerv getroffen wird: Im Abteil fläzt sich ein Soldat, seine langen Schaftstiefelbeine auf den Sitzen links und rechts von mir. Bevor ich ihn daran hindern kann, holt er seine Pfeife hervor – ölig schimmernde Schwaden. Er erzählt: „In einer Nacht, kaum heller als die heutige, kam ein Küster an seiner Kirche vorbei. Er hörte Stimmen, sah stimmungsvolles Kerzenlicht aus dem Inneren nach außen drängen. Er öffnete…

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In Wahrheit

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In Wahrheit trage ich gefrorene Wolken anstatt eines Gehirnes im Kopf. In Wahrheit will ich ein Sonnensystem, das auf meinen Namen getauft ist, entdeckt von einem Doktor der Physik, der roten Auges und krank vor Gefühl jahrelang den Nachthimmel danach abgesucht hat. In Wahrheit soll ein Störfeuer in meinem Ohr angezündet werden. Das schmilzt den Wolkenfrost zu Tropfen, die mir das Rückenmark hinab rinnen und ich bekomme endlich Platz für ein Gehirn. In Wahrheit bin ich nur auf das Knistern im Gehörgang aus, damit ich den Panflötenspieler nicht mehr hören muss. Dann bin ich frei vom Drang ihn mit seinem…

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Kein Übermensch in bergigem Terrain

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Letztlich ist es doch einfacher, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr Maß zu halten. Schritt für Schritt fällt niemandem leicht, ein Schnitt muss getan werden, ein Bruch mit dem, was einst Begierde war. Nur so versteht man sich als Sieger der eigenen Moral. Ein Hahn auf einem Haufen Mist erzählt dem Morgen, jedem Morgen, was er weiß, damit er nicht vergisst, was wirklich wichtig für ihn war und ist. Zum Beispiel Sinnenfreuden nachzugehen, zum Beispiel Bündnisreue. Ehe man es sich versieht, ist wieder ein Jahr vergangen. Ehe man sich umschaut, in die Morgensonne blickt, tut man einen Atemzug…

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Bettelmanns Herberge

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„Bettelmann, Bettelmann, Siegerkranz und Opferlamm!“, singen die schmutzfüßigen Kinder bis Heute in den Gassen und außer mir weiß niemand mehr warum. Es muss im siebten oder achten Monat des Großen Krieges Anderswo gewesen sein, als ich Bettelmann begegnete. Er hatte die Angewohnheit, mitten im Satz innezuhalten, den Kopf nach hinten zu beugen und durch einen Spalt zwischen den Schneidezähnen einen feinen Strahl zu spucken. Dabei war es Bettelmann gleichgültig, ob sich die Umgebung eignete bespien zu werden. Zusammen mit dem Tabaksaft aus feinstem Pfriem versprühte er Charme und allerlei Geistreiches, sodass kein Mensch an dieser Unart Anstoß nahm. Verkrustete Existenzen zogen…

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