Kurzgeschichten

Die Grenzen der Marktwirtschaft

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„Das ist doch an gegelten Haaren herbeigezogen!“, ruft Ruth empört und verspeist einen Pfirsich, den sie unlängst gestohlen hat. „Jeder halbwegs Denkende weiß doch, dass Mundraub im Grunde gar nicht möglich ist. Besitz ist ein Unding, ein Verbrechen, der Besitz von Nahrungsmitteln aufgrund ihrer beschränkten Haltbarkeit geradezu unmöglich.“ Der Spekulant beschließt, auf steigende Lebensmittelpreise zu wetten und gewinnt jedes Mal. „Trinkwasser ist kein Menschenrecht“, sagt er. „Wie sollte es sein? Wie könnte es sein? Auf unserer schönen Erde gibt es nur zwei Arten von Menschen: die Brunnenbesitzer und die Nicht-Brunnenbesitzer. Und da ich sehr oft durstig bin, gehöre ich lieber…

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Gliederfüßlers Pilgerreise

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Als Kind hatte ich einen Gliederfüßer zum Freund. Nicht so einen hässlichen, wie sie dieser Tage überall umherkrabbeln, sondern einen Dreilapper aus gutem Hause. Abends saß er auf meinem Kopfkissen und erzählte mir nordische Sagen zum Einschlafen. Dabei sabberte er aus seinem Urmund. Mich focht das nicht an, denn seine Spucke schmeckte nach Kaubonbons. Damals wohnten wir noch im Kambrium. Der Weg zur Ganztagesbetreuung war weit, bei Regen war ich oft mehrere Tage unterwegs. Der Trilobit vertrieb mir die Zeit und unliebsame Kameraden, von denen ich sonst sekkiert wurde. Eines Tages verabschiedete er sich unter dem Vorwand einer Pilgerreise. Ich…

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Ordnende Kraft

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Bei einer Arbeit, die sie nicht liebt, aber erledigt, weil es sonst niemand täte, trifft Bettina auf den Mann mit dem Plakat. Der Mann hält es wie eine Streitaxt; Bettina lächelt, denn sie weiß, dass einem eine unerfreuliche Tätigkeit leichter von der Hand geht, wenn man ihr gegenüber eine positive Haltung einnimmt. Zwar waren Bettinas Gedanken während der langen Stunden ihrer Ausbildung gewöhnlich geflattert wie ein verliebter Kolibri, doch soviel war hängen geblieben: Es kommt immer auf die eigene Einstellung an. Begegnet man den Menschen freundlich, wird es einem oft vergolten. Der Mann mit dem Plakat lächelt nicht zurück. Er…

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Ein Minutenvogel

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Von meiner Großmutter habe ich einen Minutenvogel geerbt. Ein Tier ohne jeden Nutzen. Schönheit ist er auch keine. Nicht einmal fliegen kann er. Tagein tagaus hockt er in seinem Käfig, flappt ab und an mit den Stummelflügeln und schreit nach Nahrung. So ein Minutenvogel frisst fünfzehn bis zwanzig Uhren am Tag. Das geht ganz schön ins Geld, denn Plastikuhren aus Taiwan verschmäht er. Es müssen Markenfabrikate sein oder wenigstens Sanduhren. Mit seinem Schnabel schnappt er durch die Gitterstäbe des Käfigs. Manchmal kommt Besuch. Dann werde ich gefragt: „Was ist denn mit dem Pinguin los? Ist er krank?“ Niemand hält einen…

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Unterschied

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Rastlos, hungrig, kein Ziel, kein Plan Auf das große Gotteshaus stürzt ein buntgeschmückter Kran Fällt ein Stein vom Herzen durch Gebet Kein Zweifel, wo der Kran heut’ steht Ein Sturm das Baugerüst gleich mit umweht. … „Ich habe das alles nicht gewollt, ich hab das alles nicht gewusst. Wer hätte auch ahnen können, dass es so zu Ende gehen würde.“ Ein Eichhorn klagt den Bäumen sein Leid. Die Bäume nehmen es gelassen hin. „Wer hätte ahnen können, dass…“ Erschrocken hält es inne, es glaubt eine silberne Löwin aus dem Winkel seines Blickfeldes wahrgenommen zu haben. Vielleicht auch nur ein Schattenspiel….

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Unter der Eckbank

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Bis zum heutigen Tage herrscht unter Fachleuten wie Laien gleichermaßen Uneinigkeit über die Person Debussy. Was dem einen als Beweis für dessen Tätigkeit als Komponist im Frankreich des 19. Jahrhunderts gilt, tut der andere als Fälschung ab und pocht auf antike Steintafeln, in die Verfügungen des Pygmäenherrschers Debussi I. eingeritzt sein sollen, doch schon erscheint ein Dritter mit einem mittelalterlichen Kupferstich. So geht das immer weiter und das Einzige, worauf die Leute sich einigen können, ist die alljährliche Debussy-Sternfahrt nach Enghagen am Tabor, zu der meinen Großvater Juli für Juli die gesamte Familie begleiten musste. Im Gegensatz zu den Reden…

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Familie 3

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Und so krochen wir beide, mein Großvater und ich, auf Geheiß meiner Großmutter noch am gleichen Abend auf den Knien durch den Staub des Dachbodens und tasteten blind nach dem Bildnis der Heiligen Kassilda. „Ich frage mich immer wieder“, sagte ich, „was diese Heilige so besonders macht, dass wir uns zu fortgeschrittener Stunde wie die Maulwürfe durch den Dreck wühlen müssen.“ Neben mir zuckte der Großvater zusammen. „Die Heilige Kassilda war eine große Frau“, wisperte er, wie um seine Gemahlin weit unter uns in der warmen Stube nicht zu erzürnen. „Deine Großmutter und ich, wir alle eigentlich, sind ihr zu…

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Gespräche mit Tacheles

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Zwischen den Jahren besuchte ich meinen Bruder Tacheles im Pflegeheim. Wie immer brachte ich ihm eine wohlriechende Salbe mit, für die tiefen Furchen in seiner Stirn, die er vom dauernden grimmig Dreinschauen bereits seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte. Er warf das Töpfchen aus mattem Glas achtlos in eine Schublade. Schon ein paar Tage vor meinem Besuch aß ich nur noch Tütensuppe und trug zu enge Rollkragenpullover aus Synthetikfasern, die meine Haut zerkratzen und in der Dunkelheit boshaft Funken sprühten. Er sollte ja nicht denken, ich hätte ein schönes Leben. Mit großem Argwohn musterte er mich, suchte in meinem Gesicht und…

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Eingeschworene Gemeinschaft oder Klemmschwestern auf dem Unterdeck

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Vollkommen und benommen bekommt jeder, was sich gehört. Paul Heidewitzka, Kapitän eines blau-weißen Unterseeboots und langjähriger Befürworter der Todesstrafe schon bei kleineren Vergehen, lässt sich den Bart kraulen, bevor er fortfährt seinen Lammspieß mit Schüssen aus der Flasche Pfefferspray zu würzen, die er aus unterschiedlichen Gründen stets mit sich führt. „Weiberfrei und Spaß dabei. Das ist seit jeher mein Motto gewesen. Mit dem Tode bedrohen kann man so oder so nur die fleischliche Hülle. Wissen Sie, im Grunde genommen tue ich den Menschen einen Gefallen. Verstehen Sie, ich bin ein gläubiger Mensch. Gott wird es schon richten, sage ich immer.“ Ein…

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So ein schnappendes Geräusch oder das ist ja ein Imitat

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So ein schnappendes Geräusch, wie von einem Fallbeil für Kinderzehen. Niemand horcht auf, die Sorge um die Unversehrtheit der Zukunft berührt hier nicht. Funktionskleidung in gedeckten Farben. Dicht bis 7000 Irgendwas Wassersäule. Das hätte Lot brauchen können. Oder war das Lots Frau? Nein. Nur ein hagerer Mann in buntem Neopren betritt energischen Schrittes das Bahnhofslokal mit der automatischen Glastür. Die macht so ein leise schnappendes Geräusch, wie ein Fallbeilspiel für Kinder. „Vererhrte Funktionskleidungsfunktionärinnen und Funktionskleidungsfunktionäre! Willkommen bei unserer kostenlosen Wassersäulengymnastik. Ein Serviceangebot von Standard & Poor, der Ratingagentur der Herzen. Mein Name ist Hubsi, und wir beginnen heute mit der…

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