Kurzgeschichten

Familie 3

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Und so krochen wir beide, mein Großvater und ich, auf Geheiß meiner Großmutter noch am gleichen Abend auf den Knien durch den Staub des Dachbodens und tasteten blind nach dem Bildnis der Heiligen Kassilda. „Ich frage mich immer wieder“, sagte ich, „was diese Heilige so besonders macht, dass wir uns zu fortgeschrittener Stunde wie die Maulwürfe durch den Dreck wühlen müssen.“ Neben mir zuckte der Großvater zusammen. „Die Heilige Kassilda war eine große Frau“, wisperte er, wie um seine Gemahlin weit unter uns in der warmen Stube nicht zu erzürnen. „Deine Großmutter und ich, wir alle eigentlich, sind ihr zu…

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Gespräche mit Tacheles

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Zwischen den Jahren besuchte ich meinen Bruder Tacheles im Pflegeheim. Wie immer brachte ich ihm eine wohlriechende Salbe mit, für die tiefen Furchen in seiner Stirn, die er vom dauernden grimmig Dreinschauen bereits seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte. Er warf das Töpfchen aus mattem Glas achtlos in eine Schublade. Schon ein paar Tage vor meinem Besuch aß ich nur noch Tütensuppe und trug zu enge Rollkragenpullover aus Synthetikfasern, die meine Haut zerkratzen und in der Dunkelheit boshaft Funken sprühten. Er sollte ja nicht denken, ich hätte ein schönes Leben. Mit großem Argwohn musterte er mich, suchte in meinem Gesicht und…

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Eingeschworene Gemeinschaft oder Klemmschwestern auf dem Unterdeck

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Vollkommen und benommen bekommt jeder, was sich gehört. Paul Heidewitzka, Kapitän eines blau-weißen Unterseeboots und langjähriger Befürworter der Todesstrafe schon bei kleineren Vergehen, lässt sich den Bart kraulen, bevor er fortfährt seinen Lammspieß mit Schüssen aus der Flasche Pfefferspray zu würzen, die er aus unterschiedlichen Gründen stets mit sich führt. „Weiberfrei und Spaß dabei. Das ist seit jeher mein Motto gewesen. Mit dem Tode bedrohen kann man so oder so nur die fleischliche Hülle. Wissen Sie, im Grunde genommen tue ich den Menschen einen Gefallen. Verstehen Sie, ich bin ein gläubiger Mensch. Gott wird es schon richten, sage ich immer.“ Ein…

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So ein schnappendes Geräusch oder das ist ja ein Imitat

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So ein schnappendes Geräusch, wie von einem Fallbeil für Kinderzehen. Niemand horcht auf, die Sorge um die Unversehrtheit der Zukunft berührt hier nicht. Funktionskleidung in gedeckten Farben. Dicht bis 7000 Irgendwas Wassersäule. Das hätte Lot brauchen können. Oder war das Lots Frau? Nein. Nur ein hagerer Mann in buntem Neopren betritt energischen Schrittes das Bahnhofslokal mit der automatischen Glastür. Die macht so ein leise schnappendes Geräusch, wie ein Fallbeilspiel für Kinder. „Vererhrte Funktionskleidungsfunktionärinnen und Funktionskleidungsfunktionäre! Willkommen bei unserer kostenlosen Wassersäulengymnastik. Ein Serviceangebot von Standard & Poor, der Ratingagentur der Herzen. Mein Name ist Hubsi, und wir beginnen heute mit der…

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Struktureller Sexismus

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„Es ist doch immer wieder erstaunlich und erschreckend, mit wie wenig Wörtern die meisten meiner Mitmenschen den Tag über auskommen, mit wie wenigen wirklich eigenen Gedanken sie ihr Dasein verbringen.“ Die mittelalte Frau mit gesundem Menschenverstand ereifert sich und bemerkt dabei nicht, dass sich ihr Gegenüber, ein Mann in den besten Jahren, ohne Ankündigung aus dem Gespräch ausgeklinkt hat. „Alles, was sie von sich geben und in ihren Köpfen wiederkäuen, sind vorgedachte Halbwahrheiten, die sie nach Belieben und innerer Empfänglichkeit den Medien entnehmen, ohne sie in Frage zu stellen.“ Der Mann in den besten Jahren räuspert sich, doch bevor er…

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Ehrenamt Europa

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Ein Gespenst geht um in Europa. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Am Zeitungskasten, genauer gesagt. Ich bin empfindsam gegen das Leid der Welt. Von einer ganzen Zeitung bekomme ich Sodbrennen. Allerdings, vom Gespenst wusste ich schon vorher. Donnerstags sucht es mich heim. Es rüttelt an meinen Zähnen und heult. „Kapital! Kapitaaaahaaahaaal! Hast du schon welches? Hast du, hast du, hast du, hast duhuhuhuuu welches?“ Dann piekt es mich mit knöchernen Fingern in den Bauch. „Sag, sag, sag, sag, sahahahaaag, hast du genug Kaaahaaahaapihiiihiiitaaahaahahaaal?“ Es springt auf meinen Rücken und zaust mir das Haar. „Man kann nie, nie, nie,…

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Nachbarschaft in Räumen & Zeiten

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In der Wohnung über meiner hustet der Nachbar fleckigen, flockigen Staub, ganze Brocken, ich höre es genau – ich stehe auf einer Klappleiter und ziehe mit einem weichen Bleistift Linien an der Zimmerdecke wo er läuft, verfolge seine Bahn. Man muss den jungen Leuten ihre Unrast nachsehen, was wissen sie schon von unserer Welt? Sie denken, die Menschheit habe gerade erst begonnen. Rückblende: Ein Ägypter poliert versonnen den goldenen Speichenschutz eines Streitwagens. „Ach! …“, seufzt er. „Unserer Welt fehlt es an Heldenmut, fehlt es an Helden, an Begebenheiten sich auszuzeichnen. Peitsche und Bier, Bier und Peitsche, das Leben ist trist…

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Bartuneks Scheu vor der Leere

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Kurz vor dem Morgengrauen erwacht Bartunek von seinem eigenen Ringen nach Atem. Schnell wie eine Fledermaus entweicht das Wesentliche aus ihm, umschwirrt noch ein, zwei Mal die Schlafzimmerleuchte, bevor es sich flach in eine der oberen Ecken des Raumes drückt. Wenig später drängt sich Bartunek zwischen den aufgerissenen Türen in den überfüllten Bauch der Bahn. Er bahnt sich seinen Weg, hinter einer Frau mit glatt zurückgebundenem Haar kommt er zum Stehen. Er atmet ihr ein Loch in den Nacken. Dazu braucht er nicht länger als eine Station. Ein Schwarm winziger Spatzen kommt aus dem Löchlein geflogen und hinterdrein hallen die…

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Am Nacktbadestrand

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Wie war das noch gestern? Wer war ich noch gestern? Die Antwort, mein Freund, kennt ganz allein der Wind. Das Haar, das mir verblieb, wird langsam weiß; der Wind bläst warm mich kahl. Ich trage einen Schutzanzug und betrachte die Nackten und die Roten. Im Klartext heißt das wohl, dass nichts und noch ein bisschen weniger meinen Blicken verborgen bleibt. „Gestatten? Platten, Vertreter von Fuß- und Hängematten.“ „Angenehm, ich bin kahl.“ „Freut mich ihre Bekanntschaft zu machen, Karl.“ Und so zieht sich auch dieses Gespräch mal wieder endlos wie Teer. Ich bedauere sehr, es überhaupt angenommen zu haben. Ich schaue…

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Der entmenschte Doktor Quarz und die anmutige Zanona

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Eine Nebelkrähe und eine Saatkrähe vermag ich am Geräusch ihres Flügelschlags zu unterscheiden. Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte mich mein Vater bei einem Taugenichts in die Lehre. Sieben Jahre blieb ich bei ihm, einem älteren Herrn mit nervösem Tick am linken Auge. Ich litt unter Heimweh und seinem Gejammer über den Niedergang und die rohen Sitten. Jeden zweiten Montag schickte er mich auf den Markt im nahegelegen Städtchen zum Herumlungern. Ich langweilte mich schnell unter den vielen Menschen. So schlich ich mich oft davon, in ein schäbiges Viertel mit engen Gassen, fernab vom Trubel des Marktplatzes. Dort begegnete…

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