Kurzgeschichten

Udo und die narrischen Schwammerl

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Udo steht vor dem Spiegel und zieht mit den Fingern die unteren Augenlider Richtung Kinn. Dazu macht er ein Geräusch wie ein Schlossgeist. Sein Gesicht hat die Farbe eines zweihundert Jahre alten Bettlakens. Udo streckt seinem Spiegelbild eine gelblich belegte Zunge heraus und knurrt. Bei Udo klappt nie was. Egal, was er anfängt, immer hat es bereits ein anderer Udo besser, schöner, spannender oder wenigstens gleich gut gemacht. Der Schmerz darüber wird mit der Zeit weniger schneidend, doch die Wunde verheilt niemals. „Ist ja witzig, unser voriger Fußballtrainer hieß auch Udo.“ „Ts. Udo. Mit dem Vornamen müssen Sie als Schlagersänger…

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Der Fensterputzer vom Elfenbeinturm

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Als ich damals in den Elfenbeinturm gezogen bin, habe ich mir keine großen Gedanken über die Nachteile gemacht. Es ist eine extravagante Adresse, die Leute stellen sich Wunder was vor, aber fast niemand kommt, um es sich anzusehen. Die selbstgewählte Einsiedelei imponiert vielen Menschen, ganz im Gegensatz zur Einsamkeit, zu der man von den gleichen Menschen verdammt wird, weil man abstehende Ohren und Mundgeruch hat, einem in Gesellschaft die Gedanken nicht ordentlich aus dem Kopf wollen oder es einem an Anmut fehlt. Über all diese Verdächte bin ich erhaben, seit ich den Turm bewohne. Das Geländer der Wendeltreppe rutsche ich…

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Pauls Polterabend

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Was ziehst du denn zu Pauls Polterabend an? Hast du dir schon Gedanken gemacht? Ich denke seit Tagen an nichts anderes mehr. Erst wollte ich mein Gouda-Kostüm tragen, aber dann fiel mir ein, dass ich eben dieses schon auf der Beerdigung von seiner vorletzten Frau anhatte, also muss ich mir etwas anderes überlegen. Ich will doch keine alten Wunden aufkratzen. Erinnerst du dich vielleicht, was ich zum letzten Polterabend trug? Ach, da war ich gar nicht, sagst du? Stimmt ja, ich mochte das Motto nicht. Ich fand ‚Einmal ist keinmal‘ irgendwie unpassend und nicht besonders geschmackvoll. Und die Frau mochte…

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Das Nähkästchen der schweigenden Oma

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Das Nähkästchen meiner Oma ist bis zum Rand gefüllt mit Schweigen. Und nicht nur das Nähkästchen. Aus Schränken und Schubladen quillt Unausgesprochenes und Regalbretter biegen sich unter der Last unerzählter Geschichten. Und nicht nur meine Oma hortet Worte. Alle Frauen meiner Familie haben stets jeden verfügbaren Raum mit ihrem Schweigen gefüllt. Wenn Schweigen Gold wäre, wir wären unbeliebter gewesen als eine jüdische Bankiersfamilie. Nur aus ihren Augen sprach leise ein unstillbarer Hunger und ein unheilbarer Schmerz. Die Männer waren verrückt nach ihnen, aber sie waren nur verrückt nach sich selbst. Dieses Erbe trage ich, auch wenn es mir nicht behagt….

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Halbwertszeit der Konsequenz

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Zwischen Pfosten kühle Stille. Mein Netz, zitternd vor Ungeduld, fängt kein Morgenlicht, nur Schatten ein. Garten, ein ungelebter Traum jenseits der Risse. Welt voller Grün, ferne Symphonie von Farben, bleibt mir versperrt, verbotene Melodie in fremdem Takt. Gedanken schweben, Seide als Faden entlang der Zeit gesponnen. Warum bleibt mir die Blättervogelschau verwehrt? Erinnerung verblasst, nur Konsequenz, ein bleiches Gespinst aus vager Schuld, vielleicht ein Jagdspiel, ein zu keckes Abenteuer. Kein Echo erinnert, Fesseln ragen. Warten hoch oben in der Ecke der Vergessenheit. Draußen Flügelschlag, Flattern von Freiheit ohne Maschen. Netz bleibt leer, Geduld still knisternd wie gefangener Tau. Halbwertszeit gestriger…

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Spirituelle Krämpfe

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Während andere Leute sich über jeden Moment freuen, an dem sie nicht ausgebombt werden, steht das Haus, in dem Sara Pelzfuß lebt, von internationalen Konflikten unbehelligt, im Hinterhof einer schmalen Straße. Die Nachbarschaft brummelt, wenn der Hauswart das Kleinblättrige Immergrün nicht im Zaume hält, sie grimmt, weil er nicht von Anfang an stattdessen Blaukissen gesät hat und liegt ein Damenhygieneartikel in der Einfahrt, beginnt sie zu schrillen. Sara Pelzfuß hat die leisen Töne lieber. Das ist altmodisch, denn heutzutage muss man heulend, kreischend und pfeifend seine Ansichten kundtun; wer nicht in einem Zelt abgefackelt oder mit Gewehrkolben totgeschlagen wird, muss…

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Ein Rezept für Tränen

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a) Der Kunsthandwerker In der blauen Dämmerung seiner Stadt arbeitet der literarische Kunsthandwerker an einem Traktat über die Einsamkeit. Seine Feder, getränkt in Nachtessenz, schreibt von Melancholie, während der Mond wie ein silberner Puppenspieler von jenseits des Fensters dabei zusieht. b) Die Verwandlung Die Tinte entfaltet, wie es ihre Art ist, Harmonien verborgener Träume. Der Kunsthandwerker sucht das Rezept: die Substanz, welche vermag, süße Schwaden aus geborstenen Gedanken zu formen. c) Die Stunde In die Stille durchwachter Nacht mischen die Finger des Kunsthandwerkers Relikte verblichener Zeit: flüchtige Küsse, Erinnerungen an unbeholfene Abschiede und Ungesagtgebliebenes – ein Gebräu aus Besorgnis und…

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Der Ich-Erzähler

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Als mir vergangene Woche, nach einigen Jahren flüchtiger Geburts- und Feiertagsgrußaustausche, der Ich-Erzähler begegnete, war ich verblüfft und auch ein klein wenig neidisch, wie gesund und fit er aussah. An mir sind die Jahrzehnte leider nicht so spurlos vorbeigegangen „Erinnerst du dich an das Nachbarpärchen, über das du mal eine Geschichte geschrieben hast?“ Bei der Fülle an verfassten Texten erinnerte ich mich nicht, ich vermied jedoch, es vor dem Ich-Erzähler zuzugeben, da ich von seiner überaus launischen Natur mehr als ein Liedchen singen konnte. „Ganz ruhige Leute. Nebenfiguren eigentlich. Damals in deiner Prosaminiatur ging es darum, dass du immer laut…

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Obertöne

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Ich mag keine Jahrestage. Anfangs sind die noch aufregend, wenn man keine eigenen Erinnerungen hat, aber irgendwann treffen sich dann Bombenattentat, Geburtstag vom Herzensfreund, der sich mit Absicht zu Tode gesoffen hat und das Jubiläum von Eddy Grants erster Hitsingle am selben Tag und man fragt sich, warum einen nicht längst der Teufel geholt hat, obwohl man weiß, dass der Teufel einen heutzutage holt, indem er einen da lässt, wo man ist. Dazu kommen die Jahrestage der Lebenden, an die man mit vorwurfsvollen Untertönen erinnert wird, weil man das erste gemeinsam gegessene Vanilleeis vor sechs Jahren vergessen hat. So entstehen…

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Ein Schlückchen Magie

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Die Pilger waren von der mehrtägigen Wanderung erschöpft, aber entschlossen, das Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Wilhelm und Abel, die stets zankenden Zwillinge, gesellten sich wieder zur Gruppe, nachdem sie Quartier im Pilgerort gefunden hatten. „Wisst ihr, wer der Herr der Herberge ist, die wir ausgesucht haben? Niemand anderes als der Ur-Ur-Ur-Großneffe zweiten Grades der Heiligen Cassilda selbst“ rief Wilhelm, der wie immer der Wortführer der beiden war, schon von Weitem. „Alles wird gut.“ Die Pilger staunten nicht schlecht und ein spürbarer Ruck ging durch sie. Ja, alles würde gut werden, Kraft durchfuhr sie und sogar die…

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