Kurzgeschichten

Der Eremit

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Nun liege ich schon seit mehreren Jahrzehnten in meiner Mönchszelle auf meiner vor Dreck starrenden Pritsche und betrachte meist die Zimmerdecke und den dichten Vorhang, der bis zum Boden reicht und das Licht draußen vor dem Fenster hält. Meine Haut ist dünn wie Butterbrotpapier und wenn ich des Nach-oben-schauens müde geworden bin, sehe ich dem Blut beim Fließen durch die Adern zu. Irgendwo in der Außenwelt schreien immer Kinder. Der Name eines bestimmten Jungen wird heute besonders häufig gerufen und ich wünschte, er würde endlich ansprechen. „Daniel!“, brüllen sie, „Daaaaaa-niel! Daaaaaaaaa-niel!“ Es ist kaum zu ertragen. Entweder ist der Junge…

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Auf der Goldwaage

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Durch einen simplen Katarrh bin ich unlängst einem beachtlichen Menschheitsproblem auf die Spur gekommen. Die Benutzung der eigenen Stimme verbraucht zu wenig Energie. Der Mensch vermag in beliebiger Lautstärke und endlosen Wiederholungen in Wald, Stadt und Flur Nichtigkeiten dahinzuposaunen, ohne dass es ihn die geringste Mühe kostet. Seit ein paar Tagen bringe ich nicht mehr als ein gebrochenes Flüstern zustande und bereits nach drei oder vier Sätzen muss ich ein Schläfchen halten, um wieder zu Kräften zu kommen. Da überlegt man sich gut, ob eine Sache der Erwähnung wert ist. Dazu kommt, die Umwelt ist gar nicht auf leise Töne…

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Was weiß die KI vom Frühling?

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„Sicher nicht!“ Zwei Schriftsteller stehen unangenehm nah beieinander und mustern den Kampfeswillen des jeweils anderen. „Sicher nicht“, äfft der zweite den ersten nach. „Bleib mir vom Leibe mit der Modernität! Gib mir ein Tintenfass und einen Gänsekiel!“ „Du weißt, dass das Quatsch ist, was du da sagst, oder? Ich behaupte ja nicht, dass wir nicht mit der Zeit gehen sollen – ich sage lediglich, dass ich nicht in einer Welt leben möchte, wo die Menschen niedrige Arbeiten für einen kargen Hungerlohn verrichten und die Maschinen Zeit und Muße haben, Bilder zu malen und Geschichten zu schreiben.“ Der zweite Schriftsteller schubst…

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Gefühle

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Man muss immer auf das Bauchgefühl hören. So predigen es die klugen Leute und stets folgt der Ermahnung eine Anekdote, in deren Verlauf einem dies oder jenes widerfahren ist, weil man dem Rat des Bauchgefühls gefolgt ist. Die weniger Klugen kennen Geschichten über allerhand Ungemach, das ihnen erspart geblieben wäre, hätten sie auf ihr Bauchgefühl gehört. Von Haus aus bin ich keine Neiderin, doch ich kann nicht umhin, voller Sehnsucht den Geschichten über anderer Leute Bauchgefühl zu lauschen. Mein eigenes ist nämlich kein guter Ratgeber, um nicht zu sagen: eine Katastrophe. Läutet morgens der Wecker, rät mir mein Bauchgefühl liegenzubleiben….

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Lebensumstände

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Ich wohne in einer zentral gelegenen 2½-Zimmerwohnung ohne Balkon und Meerblick. Seit zwei oder drei Jahren habe ich keine Nachtigall mehr gehört. Vorher jedes Jahr, bestimmt 20 Frühlinge hintereinander. Eines Morgens bemerkte ich zu meiner sehr geringen Freude, dass sich mehrere Kohorten Termiten ein Lager errichtet, und sich häuslich in meinem großen Zimmer, das ich in besseren Tagen als Wohn- und Musizierzimmer nutzte, niedergelassen hatten. Groß war mein Erstaunen, mäßig mein Entsetzen ob meiner sehr dynamisch erscheinenden Mitbewohner; sie waren äußert aktiv und schufen Behausungen, Gebäude von nahezu graziler Anmut, die selbst ein in architektonischen Dingen unbewanderter Mensch wie ich…

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Kulturfolger

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In der Wohnung über mir ist ein Rudel Wölfe eingezogen. Ein Elternpaar, drei Welpen und zwei halbwüchsige Geschwister. Zunächst war ich erfreut, denn die Nachbarin, die zuvor dort wohnte, war ein missgünstiges Weib, das eimerweise Wasser vom Balkon schüttete, wenn irgendwo zu laut gelacht wurde. Die Wölfe lebten ursprünglich im Wald, doch da sie dort ständiger Bedrohung durch den Ministerpräsidenten ausgesetzt waren, haben sie bei meiner Vermieterin um Asyl angesucht. Ich muss sagen, angenehmere Nachbarn hatte ich mein Lebtag nicht. Wenn sie nachts nicht ab und zu heulen würden, merkte ich gar nicht, dass sie da sind. Die Wolfsmutter grüßt…

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Beim Kunstarzt

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Seit einiger Zeit gehe ich regelmäßig zum Kunstarzt, um mir die Kreativitätsdrüsen ausdrücken zu lassen. Ich komme ja jetzt in die Jahre, in denen nicht mehr alles automatisch flutscht und bin ganz froh, dass ich nach langem Suchen endlich einen Facharzt, eine ausgewiesene Koryphäe, von einer befreundeten Illustratorin empfohlen bekommen habe. Der Kunstarzt ist nicht auf eine Gattung spezialisiert. Das ist für mich von besonderem Vorteil, da ich beim Markieren meines seelisch-geistigen Reviers kaum mehr kontrollieren kann, ob ich ein Lied komponieren, ein Bild schaffen oder einen Text verfassen werde. Dem Doktor ist es einerlei; er behandelt Dichtende, Musizierende und…

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Caruso

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Am Wochenende kommt mein Onkel Caruso zu Besuch. Ein unangenehmer alter Herr, der häufig „Informier dich mal!“ ruft. Aber wenn ich mir weiterhin Hoffnung auf seine Erbschaft machen will, komme ich um das vierteljährliche Wochenende mit ihm nicht herum, auch wenn ich es vorzöge, mit einem Fabelwesen einen Staatsbesuch im Reich der Mitte zu machen. Mit düsterer Mine schiebe ich den Staubsauger über den Fußboden und verwünsche meine Geldgier. Ein Papagei flattert zum Fenster herein und lässt sich auf einer Sessellehne nieder. Er schüttelt sein prächtiges Gefieder. Staub und kleine Federn rieseln auf den frisch gesaugten Teppich hinab. Das Tier…

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Passion

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Für die Sünden der Menschheit zu sterben, sich zu opfern, ist ja leicht für einen jungen Mann. Was hat man denn schon zu verlieren? Ich habe es mittlerweile im Kreuz; es zwickt und zwackt, es zieht und zerrt; das Alter nagt, es zehrt an mir. Ich wollte immer sein wie er, in Gedanken war ich wohl schon er, bereit mich aufzuopfern, dem Leben von der Schippe zu springen. Das hätte dem Ganzen einen Sinn gegeben. 6, 11, 29, 30, 35, wo kamen dann plötzlich die Zahlen her, ich wäge ab, mal so, mal so, und denke, es ist gut, weitergelebt…

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Das tückische Es

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„Man muss sich sputen, wenn man den Sonnenstrahl erwischen möchte. Wer trödelt, steht im Regen, ehe er es sich versieht.“ Das klingt nicht nur in meinen Ohren merkwürdig. „Was?“, brüllt der Hausmeister, als ich es ihm statt eines Grußes zurufe. Er weist mit einem fleischigen Zeigefinger auf den gelben Plastikhelm, der er neuerdings trägt. Ich wiederhole die Sätze etwas lauter und finde sie beim zweiten Mal abgedroschen und oberflächlich. Lieber würde ich über etwas anderes sprechen. Oder noch lieber über nichts. „Ich habe Sie schon beim ersten Mal gehört“, brüllt er. „Aber ich verstehe nicht. Der Helm schnürt mir das…

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