Das Zeitalter der Krähe

„Wie man weiß, sind Krähen sehr intelligent, wenn auch nicht unfehlbar.“
So sollte eigentlich meine neueste Geschichte beginnen. Den Satz trage ich bestimmt schon seit sechs Monaten mit mir herum. Und ebenso lang erzähle ich auch schon, die Geschichte endlich schreiben zu wollen. Jüngst auch meinem Nachbarn Krause, der sich zur Gewohnheit gemacht hat, regelmäßig bei mir vorbeizuschauen, um zu sehen, ob ich etwas zu essen oder zu trinken benötige.
„Wie weit bist du denn mit der Geschichte?“, fragte er mich und ich zuckte mit den Schultern.
„Die wird, die wird“, antwortete ich etwas nebulös, darauf bedacht, Krause nicht direkt anzulügen. „Die Dinge brauchen eben ihre Zeit.“
Wie man weiß, sind Krähen sehr intelligent, wenn auch nicht unfehlbar. Eine verwechselt mich mit einem Zeitgenossen, der ihr mal wohlgesonnen war und zu dem sie eine freundschaftliche Bindung entwickelt hat. Sie glaubt ihn in mir zu erkennen, und schenkt mir einen blutverkrusteten Ringfinger. Als ich, unter einigen Mühen, den Ehering vom Finger ziehe und ihn oberflächlich mit dem Daumennagel vom Blut befreie, sehe ich die Gravur. Mein Augenlicht ist nicht mehr, was es einmal war, ich schiebe mir die Brille auf die Stirn und entziffere mit zusammengekniffenen Augen die winzige Inschrift: Dinge brauchen ihre Zeit.
„Und? Was denkst du?“
Krause schaute auf meinen Vorhang, der sich sanft im Auftrieb der Heizungsluft wiegte. „Vielversprechend“, sagte er. „Nein, wirklich. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.“
Dann verabschiedete er sich unter einem Vorwand und seither liege ich in meinem Bett und frage mich, was er wohl mit ‚wie es weitergeht‘ gemeint haben könnte. Ich wünschte, er würde sich nicht immer so vage ausdrücken. Aber so ist er wohl.