Fingerling und Nasenring

Zuuuuu-rückbleiben, bitte!
Zurückgeblieben sind zwei Opiatsüchtige und ich. Einer von beiden kniet vor den Löchern des Gitters einer bewusst unbequem gestalteten Sitzgelegenheit in einem U-Bahnhof meiner Wahl und bereitet sich und seiner Suchtkameradin jeweils eine Dosis zu.
Seine Hände zittern stark, doch ist sein Unwohlsein nichts im Vergleich zu ihrem. Die Hände seiner Begleiterin greifen graue Luft, die aus den Schächten, aus beiden Tunnelenden, auf den Bahnsteig gedrückt wird – ihr Körper zuckt. Konvulsion folgt Konvulsion, Krampf löst sich, wird von neuem Krampf verdrängt.
– Mach! Mach! Mach!
– Ich mach ja schon.
– Schon reicht nicht. Wie lange noch?
– Siehst du doch selber.
Sieht jeder hier, der nicht die Augen schließt. Sehe ich, sehen die Kameras. Der Wind wird stärker, kommt von zwei Seiten, die Luft dichter.
– Ich habe dir ein Gedicht geschrieben. Willst du es hören? Ich kann es auswendig.
– Mann, Alter, mach! Siehst du nicht, wie ich hier am Flattern bin?
– Also willst du es nicht hören?
– Wenn’s dir hilft, schneller eine aufzuziehen, dann sag es auf!
– Jetzt will ich nicht mehr.
– Mann, jetzt sei nicht gleich eingeschnappt! Wie heißt es denn?
– ‚Fingerling und Nasenring‘. Es hat dreizehn Strophen.
Und gerade als er zum Vortrag ansetzt, beide Spritzen gefüllt mit Gift, kommen die U-Bahnen von Ost und West fast zeitgleich zum Halt; ich will noch anmerken, dass ich mal einen Prosatext mit gleichem Namen in Planung hatte, die Idee aber in der Zwischenzeit aus Mangel an gesellschaftlicher Relevanz wieder fallen ließ, da sehe ich, dass sie sich mittlerweile von den ausgestiegenen Fahrgästen Richtung Ausgang treiben lassen und, ohne sich noch mal nach mir umgedreht zu haben, aus meinem Blickfeld verschwinden.
Zuuuuu-rückbleiben, bitte!
Und das beherzige ich.