Endstation Norbert

Wenn keine Züge vorbeifahren, kann Martina Pelzfuß am anderen Flußufer ein Feld sehen und weit dahinter Berge, die in grünen Wellen dem Himmel entgegen rollen um dann in zornigen, grauen Zacken voller Neid ins Blau zu stechen. Auf dem kleinen Bahnhof, in dessen Fahrkartenschalter Martina Pelzfuß tagein tagaus sitzt, ist nicht viel Betrieb. Meist hat sie Zeit, den kleinen Ausschnitt der Welt zu betrachten, den ihr das kleine Fensterchen zeigt.

Ein Mann mit roten Äderchen auf den Wangen drängt sich in ihr Blickfeld. Auf dem Kopf sitzt schief eine mächtige Pelzmütze. Er räuspert sich, als müsste er ihre Aufmerksamkeit erregen, dabei sieht sie ihn direkt an.

„Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“, fragt Martina Pelzfuß mit einstudierter Freundlichkeit.

Der Mann streckt ihr einen Zettel entgegen. „Norbert. 15 Uhr.“ steht darauf. Weiter nichts. Frau Pelzfuß reckt den Hals, um an dem Mann vorbei auf die Bahnhofsuhr schauen zu können. Es ist 9 Uhr und 17 Minuten. Noch jede Menge Zeit.

„Wo wollen Sie denn hin?“, fragt sie.

Der Mann wedelt ungeduldig mit dem Zettel und sagt: „Nobert. 15 Uhr.“

Martina Pelzfuß unterdrückt ein Gähnen und spricht langsam und deutlich. „Ja. Sie wollen um 15 Uhr bei Norbert sein. Aber wohin wollen Sie fahren?“

Er legt den Zettel auf die Theke und streicht ihn glatt. Dann pocht er mit einem fleischigen Zeigefinger auf das Papier. „Norbert!“

Dienstbeflissen tippt Frau Pelzfuß „Norbert“ in das Feld für den Zielbahnhof auf ihrem Computer. Nach ein paar Augenblicken sagt sie, es gäbe keinen Bahnhof Norbert.

„Hören Sie, ich bin ein Urenkel des Dschingis Khan. Um 15 Uhr muss ich in Norbert sein. Ein wichtiger Termin. Sie sind Bahnangestellte und verkaufen Fahrkarten. Also.“

Martina Pelzfuß überlegt. Ein Urenkel des Dschingis Khan. Das ist ja ein Ding. Allerdings, wenn man den Geschichten glaubt, ist ja fast jeder mehr oder weniger ein Urenkel des Dschingis Kahn. Der war ein rechter Schwerenöter gewesen. Im Schein eines Feuers winden sich schwitzende, nackte Leiber auf dem Fell eines Bären. An den Zeltwänden tanzen die Schatten von ineinander verschlungenen Körpern. Es riecht nach Schweiß, Wein und gebratenem Fleisch. Martina Pelzfuß seufzt und reibt ihre bestrumpften Füße aneinander. Voller Sehnsucht blickt sie in die wilden Augen des Mannes. Sie druckt zwei Fahrkarten für den nächsten Zug aus, schließt den Schalter und zieht ihren Mantel an.

„Ich komme mit“, sagt sie mit atemloser Stimme.

Der Mann ist misstrauisch. „Ist das der richtige Zug?“, fragt er.

„Ja, ja“, beeilt sie sich zu sagen und schiebt ihn zum Gleis. „Endstation Norbert. Ankunft 15 Uhr.“