Literarisches

Warten aufs Ego

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Das surrt und brummt und wirbelt um mich herum, dass ich überzeugt bin, das Leben sei ein Abenteuer. Dabei bin ich bloß ein Brummkreisel. Mit fünfundvierzig Umdrehungen pro Minute. Manch einer mag einwenden, etwas mehr dürfte es schon sein. Wenn man dabei mit der Erdrotation und sich selbst im Einklang ist, bringt fünfundvierzig aber größtmögliche Kohärenz und etwas anderes, was ich gerade vergessen habe. Für einen Egotrip dauert das ganz schön lange. Reist man da zum Ich oder hindurch oder drumherum? Die Schlaumeier wissen das bestimmt. Ich hingegen bin in der Altruismusbranche tätig, da darf so etwas keine Rolle spielen….

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Das Wiedersehen

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In der U-Bahn mir gegenüber sitzt ein kleiner Mann – er lächelt mich erkennend an – und lässt vom Sitz die Beine baumeln. Für ihn bin ich ein Riese wohl, er sieht’s mir nach. „So trifft man sich wieder“, sagt er und nickt mit seinem großen Kopf. „Wie geht’s uns denn dieser Tage?“ Ich murmle Unverbindliches in der Art von ‚Man kommt so durch. Wenn man es tut, ist nichts leicht im Leben’; ich hoffe, dass das Gespräch damit beendet ist. Doch mitnichten, er gluckst und kichert, er hebt den stummeligen Zeigefinger und fragt: „Haben Sie schon einmal, wie ich,…

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Spätfolgen der Leichtathletik

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Beim Sportfest entstehen manchmal Freundschaften, über die man sich noch jahrelang ärgert. Da heißt es, dabei sein sei alles, dabei stimmt das gar nicht. Wer nicht dabei ist, spart sich Atem, Zeit und Faserrisse in den Muskeln. Ich bin statt zum Sportfest immer zum Stehausschank gegangen, um mir den ein oder anderen Schnaps schmecken zu lassen. Einmal traf ich dort einen Ameisenbären, der weinte bitterlich. Seine Braut hatte ihn beim Staffellauf betrogen. Darüber kam er nicht hinweg. Also tranken wir Liköre bis zum Sonnenuntergang. Dann trug ich ihn zur Aschenbahn, wo wir bis zum Morgengrauen Kugeln stießen. Seither blüht mir…

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Randnotiz

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Die Welt birgt keine Geheimnisse. Nichts, was nicht dutzende Male von jedem Einzelnen schon gedacht worden wäre. „Oh, wie klein und unbedeutend der Mensch doch ist!“, denkt Herr Gimpel laut, als er sich in einer lauen Nacht den Sternenhimmel besieht. Frau Gimpel beeilt sich ihm beizupflichten, denn sie weiß, dass seine Geduld begrenzt ist. „Angesichts der Unendlichkeit ist der Mensch nur eine Randnotiz, eine Laune des Zufalls.“ Ihr Mann nickt grimmig und schiebt sein Kinn vor, denn er weiß von Fotografien und dem Blick in den Spiegel, dass dieser Gesichtsausdruck den energischen Anteil seiner Persönlichkeit unterstreicht und betont. „Und gerade…

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Der Bison

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In den Sommerferien, wenn die anderen Kinder ins Freibad gingen, musste ich in der Worttrennerei meines Onkels aushelfen. Er war ein Bison und daher in der Familie nicht sonderlich beliebt. Beim Essen hingen seine Zotteln in die Teller und Schüsseln. Wenn ihm fad war, scharrte er unter dem Tisch mit den Hufen und beschädigte die Auslegeware. Die Worttrennerei befand sich im hinteren Teil seines Stalls. Dort saß ich den lieben langen Tag, zu meinen Füßen ein Sack mit Wortpaaren. Vor mir ein Töpfchen und ein Kröpfchen, in das ich die vor Schmerz und Angst brüllenden Worthälften legen musste. Hüben und…

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Die Grenzen der Marktwirtschaft

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„Das ist doch an gegelten Haaren herbeigezogen!“, ruft Ruth empört und verspeist einen Pfirsich, den sie unlängst gestohlen hat. „Jeder halbwegs Denkende weiß doch, dass Mundraub im Grunde gar nicht möglich ist. Besitz ist ein Unding, ein Verbrechen, der Besitz von Nahrungsmitteln aufgrund ihrer beschränkten Haltbarkeit geradezu unmöglich.“ Der Spekulant beschließt, auf steigende Lebensmittelpreise zu wetten und gewinnt jedes Mal. „Trinkwasser ist kein Menschenrecht“, sagt er. „Wie sollte es sein? Wie könnte es sein? Auf unserer schönen Erde gibt es nur zwei Arten von Menschen: die Brunnenbesitzer und die Nicht-Brunnenbesitzer. Und da ich sehr oft durstig bin, gehöre ich lieber…

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Gliederfüßlers Pilgerreise

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Als Kind hatte ich einen Gliederfüßer zum Freund. Nicht so einen hässlichen, wie sie dieser Tage überall umherkrabbeln, sondern einen Dreilapper aus gutem Hause. Abends saß er auf meinem Kopfkissen und erzählte mir nordische Sagen zum Einschlafen. Dabei sabberte er aus seinem Urmund. Mich focht das nicht an, denn seine Spucke schmeckte nach Kaubonbons. Damals wohnten wir noch im Kambrium. Der Weg zur Ganztagesbetreuung war weit, bei Regen war ich oft mehrere Tage unterwegs. Der Trilobit vertrieb mir die Zeit und unliebsame Kameraden, von denen ich sonst sekkiert wurde. Eines Tages verabschiedete er sich unter dem Vorwand einer Pilgerreise. Ich…

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Ordnende Kraft

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Bei einer Arbeit, die sie nicht liebt, aber erledigt, weil es sonst niemand täte, trifft Bettina auf den Mann mit dem Plakat. Der Mann hält es wie eine Streitaxt; Bettina lächelt, denn sie weiß, dass einem eine unerfreuliche Tätigkeit leichter von der Hand geht, wenn man ihr gegenüber eine positive Haltung einnimmt. Zwar waren Bettinas Gedanken während der langen Stunden ihrer Ausbildung gewöhnlich geflattert wie ein verliebter Kolibri, doch soviel war hängen geblieben: Es kommt immer auf die eigene Einstellung an. Begegnet man den Menschen freundlich, wird es einem oft vergolten. Der Mann mit dem Plakat lächelt nicht zurück. Er…

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Ein Minutenvogel

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Von meiner Großmutter habe ich einen Minutenvogel geerbt. Ein Tier ohne jeden Nutzen. Schönheit ist er auch keine. Nicht einmal fliegen kann er. Tagein tagaus hockt er in seinem Käfig, flappt ab und an mit den Stummelflügeln und schreit nach Nahrung. So ein Minutenvogel frisst fünfzehn bis zwanzig Uhren am Tag. Das geht ganz schön ins Geld, denn Plastikuhren aus Taiwan verschmäht er. Es müssen Markenfabrikate sein oder wenigstens Sanduhren. Mit seinem Schnabel schnappt er durch die Gitterstäbe des Käfigs. Manchmal kommt Besuch. Dann werde ich gefragt: „Was ist denn mit dem Pinguin los? Ist er krank?“ Niemand hält einen…

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Unterschied

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Rastlos, hungrig, kein Ziel, kein Plan Auf das große Gotteshaus stürzt ein buntgeschmückter Kran Fällt ein Stein vom Herzen durch Gebet Kein Zweifel, wo der Kran heut’ steht Ein Sturm das Baugerüst gleich mit umweht. … „Ich habe das alles nicht gewollt, ich hab das alles nicht gewusst. Wer hätte auch ahnen können, dass es so zu Ende gehen würde.“ Ein Eichhorn klagt den Bäumen sein Leid. Die Bäume nehmen es gelassen hin. „Wer hätte ahnen können, dass…“ Erschrocken hält es inne, es glaubt eine silberne Löwin aus dem Winkel seines Blickfeldes wahrgenommen zu haben. Vielleicht auch nur ein Schattenspiel….

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