Weltenende, unterbrochen

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So lange liege ich nun schon hier, dass eine Staubsicht mein Gesicht bedeckt. Anfangs war sie fein, wie Puder, doch mit der Zeit buk sie fest, der Glasur auf einem Tongefäß gleich. Die ersten hundert Jahre vertraute ich darauf, es würde bald jemand nach mir sehen. Schließlich habe ich Freunde und Familie. Indes, niemand kam und ich verlor das Gefühl für die Zeit. Hunger und Verzweiflung ließen bald gelangweilt von mir ab. Mittlerweile passt mir mein Zustand recht gut und ich würde diese Geschichte gar nicht erzählen, wäre nicht vorhin etwas Eigenartiges geschehen. Die Tür öffnet sich und eine dicke,…

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Die Hand, die mich füttert

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Den Hügel hinab ist das Gehen mühsam, besonders bei Tauwetter. Die Räder des Rollators drehen wilde Kreise im Matsch. Wie Fliegen, die man von einem Kadaver aufscheucht. Ich selbst finde schon lange keinen Halt mehr, auch nicht bei trockener Witterung. Aber heute, bei Sturm und Regen, die Straßen und Wege rutschig, als wären sie mit Seife beschmiert – da wäre ich am liebsten zu Hause im Bett geblieben, auch wenn die Fenster undicht sind und kein Öl für den Ofen da ist. Doch will ich nicht hungern, also bleibt mir nichts übrig, als den beschwerlichen Weg zum Brötchengeber zu gehen….

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Auf dem Viehhof

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Von Zeit zu Zeit legt Gott die Würfel beiseite, wird Fleisch. Manchmal veranstalten die Leute ein großes Getue darum, aber meist nimmt niemand davon Notiz. Ich begegnete ihm auf dem Viehmarkt. „Die Seele ist ein Wind, der einem aus den Augen weht.“ Suchend sehe ich mich um, wer das gesagt hat. Die Tiere stehen in Ständern angebunden, eins neben dem anderen, wie Dominosteine. Die Halle ist bis unter das Dach angefüllt mit Geräuschen, verdickt zu einer Schichtspeise. Scharren von Hufen auf Beton und Stahlgittern. Urin, der in dichtem Strahl in eine Rinne rauscht. Stimmengewirr, durchbrochen von Husten, Lachen oder Rotz…

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Auschwitz ist mir egal

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Als Kind habe ich mich für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich gefühlt. Nicht im übertragenen Sinn, sondern so, wie ein Kind sich eben verantwortlich fühlt. Schuldig. Jaja. Reden Sie nur. Ein Kind weiß ja mit einer Zahl in der Größenordnung gar nichts anzufangen. Und den Tod kann sich so ein Kind nicht vorstellen. Sie vielleicht. Ich konnte mir jahrelang kaum etwas anderes vorstellen. Keinen Gedanken konnte ich denken, der sein Ende anderswo gefunden hätte. Nicht einmal ein Käsebrot konnte in meinem Kopf Gestalt annehmen, ohne dass im Hintergrund Leichenberge zu sehen gewesen wären, mächtig und endlos wie die Nordkette…

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Der Barde

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Als der Barde noch ein Knabe war, sang er immer von der Alm ins Tal hinunter. Die Stimme war weich und klar, wie das Wasser, das im Bächlein über das Moos auf den Steinen rann. Die Leute hielten in ihrem Tagwerk inne und hörten seine Lieder. Sonntags verbrannte der ein oder andere Braten, weil eine Küchenmagd träumend vor sich hinsummte. Eines Abends begab es sich, dass ein weißer Kater durch das Tal kam. Er nahm auf einem dunkelgrauen Felsen im Mondlicht Platz und begann ein Liebeslied aus seiner Heimat zu singen, in der Hoffnung, bald von willigen Kätzinnen umringt zu…

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Haifischzähne

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Zum neuen Jahr war ich eingeladen. Bei der Tombola gewann ich den ersten Preis: einen Eierschneider. Es gab noch Punsch und Palaver, Tanz selbstverständlich auch. Wie ich im Morgengrauen zur Garderobe gehe, den Hauptgewinn unter den linken Arm geklemmt, bemerke ich einen dünnen Mann, der mich voll Trauer ansieht. Er kommt mir bekannt vor, also bleibe ich stehen und wühle in meinen Erinnerungen. Ich trage sie in einem Beutel über der Schulter, der von den meisten für meine Handtasche gehalten wird. „Soll ich deine Handtasche mal halten?“, fragen sie, wenn ich nach dem Portemonnaie in der Jacke suche, und wundern…

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Frau Machatschek träumt von der Südsee

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Nathan Söder ist in der Nachbarschaft ob seiner Hinterfotzigkeit verrufen. Man sagt ihm nach, er lege Giftköder und Kekse mit Nadeln für Hunde und Katzen aus. Auch stellt er den Kindern hin und wieder ein Bein oder gibt ihnen einen heimtückischen Stoß, wenn sie üben, wie man mit dem Fahrrad fährt. Ich finde ihn gar nicht so schlimm. In einer Welt voller Fassbomben und Sklavenhandel sind solche Dinge Kleinigkeiten. Jeden Morgen nimmt mich Nathan Söder im Beiwagen seines Motorrades mit zur Arbeit. Wir sind in der Fabrik für Nasenrubine beschäftigt. Meine Tätigkeit ist nicht anstrengend und ich habe ein bescheidenes…

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Der Brückenwart

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Um das Badezimmer zu erreichen, muss ich eine Brücke überqueren. Sie führt über einen Fluss, der eine Idee zu breit ist, um darüber springen zu können. Jedes Mal denkt man, die Strecke sei mit einem kräftigen Anlauf zu bewältigen, aber es gelingt nie. So habe ich die Wahl, entweder Misserfolg an Misserfolg zu reihen, oder aber ich setze mich der Laune des Brückenwarts aus. Ein verschlagener kleiner Kerl mit dickem Bauch ist das. Wenn es ihm einfällt, öffnet er die Brücke, während ich gerade hinübergehe und ich falle ins eisig-schwarze Wasser. Dann lacht er schadenfroh oder schimpft höhnisch, ich sei…

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