Kurzgeschichten

Schiffbruch

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Ein junger Mann, ganz mager ist er. Wie auf dieser berühmten Photographie, die einige Häftlinge hinter Stacheldraht zeigt, nur dass sein Schädel nicht kahlgeschoren ist. Er trägt das Haar zu einer Welle geföhnt, die auf seiner Stirn sitzt. Ein Kapitell auf der Fontanell‘. Mit Nachdruck setzt er seine Tasse auf dem Kaffeehaustischchen ab und ruft: „Ich überlege, mir ein Containerschiff zu kaufen! Ich habe es satt, immer nur die Brosamen aufzupicken und in meinen Jackentaschen zu sammeln! Mein Leben ist eine Auffädelung von Perlen, die im Ozean der Belanglosigkeit gewachsen sind. Eine stete Wiederholung von sich niederlegen und wieder erheben,…

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Fundevogel

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Fundevogel. Ich hätte gern ein Pfund Fundevogel. Was muss ich hören, was muss ich vernehmen, Fundevogel ist aus? Der letzte Kunde bekam den letzten Schenkel, den letzten Flügel, die letzte Brust? Und wenn wir sagen, angenommen, wir sagen, ich sei der allerletzte Kunde, gibt es nicht doch vielleicht ein aller-allerletztes Stück für mich? Versprach ich doch den Kindern, den Alten vor Ort, den Mädchen, den Knaben im Dorf den Braten. Gibt es da keine Möglichkeit – vielleicht wenn ich einen kleinen Aufschlag zahle? Wie wäre es mit Pralinen, mit einem Blumenstrauß für die werte Gattin, dem liebreizendem Geschöpf? Ein von…

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Die Fußgängerin

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Spare in der Not, so wirst Du im Überfluss reichlich haben, dachte eine Fußgängerin, die über eine Brücke ging, um die Eisenbahngleise der großen Stadt, in der sie lebte, zu überqueren. Ein Stückchen hinter dem Brückenmittelpunkt lehnte ein Mann gefährlich weit über das Geländer. „Pass auf, sonst fällst du runter!”, rief sie ihm zu und wollte weitergehen. Doch der Mann beugte sich noch tiefer über die Brüstung. Die Fußgängerin überlegte, den Mann zu überreden, seine Absicht zu überdenken. Der Mann kam ihr zuvor. „Siehst du die Löwen dort unten? Sie sind hungrig. Die Löwenmutter kann ihre fünf Kinder nicht mehr…

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Großmutters Luftschläge, Echo

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Nettigkeiten und schöne Reden verleiten mich leicht. Früher dachte ich, das sei ein Zeichen von Einfalt und wünschte mir eine große Portion dieses abgebrüht-sachdienlichen Misstrauens, das sich allseits großer Beliebtheit erfreut, weil man damit Abteilungsleiter werden kann oder sogar Filmregiesseurin. Aber, je! Wann immer ich eine bekam, lag sie mir schwer im Magen, wie eine Schweinshaxe, und ich konnte mich nicht mehr rühren. Also tat ich, wie es mich meine Großmutter gelehrt hatte und fragte Gott, was da zu tun sei. Doch der wusste keinen Rat, denn solcher Kram ist ihm fremd. Im Zweifelsfall, meinte er, solle ich alles lassen,…

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Opas Suche nach Zuwendung

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„Opa will private Fotos sehen. Zeigt Opa mal das Album!“ Und mit wütendem Bedauern fügt der rüstige Rentner hinzu: „Niemand lädt Opa zu privaten Partys ein.“ Wenn er sich einmal in Rage geredet hat, kennt Opa kein Halten; dann strömt es geradezu aus seinem Volksmund: „Es heißt immer ‚Opa du lebst wohl hinterm Mond’ oder ‚Opa, deine Hose riecht so komisch, Opa, geh weg!’ und das ist schade, denn ihr jungen Leute könntet von Opas Erfahrungen profitieren. Opa kennt Tricks und Kniffe.“ Widerwillen und Abscheu breiten sich um den Rentner aus; das Liebespaar schließt das Fotoalbum und verlässt eilig die…

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Hausgemeinschaft

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Die Seele ist ein Gas. Genaueres weiß man nicht. Ob es gesammelt wird, um aufsässigen Menschen die Schleimhäute zu reizen oder damit man nachts besser schlafen kann, wird im Radio nicht berichtet. Gewiss kann man daran ersticken, wir ersticken vielleicht alle daran, früher oder später. Meine Nachbarin ist vor dem Erstickungstod gefeit, denn sie hat keine Seele. Tagein tagaus ist sie hektisch damit beschäftigt, eine vorzutäuschen. Sogar ein Ehrenamt in der Kinderklinik hat sie zu diesem Behufe angenommen. Unermüdlich bietet sie ihre Hilfe an, egal ob Umzüge, Liebeskummer, Blumengießen, eingewachsene Zehennägel oder Familienaufstellungen. Sie kennt sich mit allem aus, was…

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An Tagen wie jenen oder Aequis aequus

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Zu welchem Zeitpunkt musste Alexander Gauland (nicht verwandt) so herzlich lachen, dass ihm ein Knopf vom Hemd sprang? Es war der Augenblick, als der schwangeren Nachbarin ein Ziegelstein auf den Kopf fiel, der Stein zerbrach und sie sich erstaunt umsah, ohne jedoch die Ursache ihres plötzlichen Kopfschmerzes ausmachen zu können. Wenige Stunden zuvor hatte sie noch mahnend zu ihrem Ungeborenen gesagt, dass die Welt außerhalb des Körpers ein rauer und ungemütlicher Ort sei. Das Kind solle nur gut auf die Worte der Mutter hören – die wisse, wovon sie rede. Und das Baby hatte lächelnd gelauscht und, von der Mutter…

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Zusammenhänge

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Es heißt, wer sich mit Kaulquappen niederlegt, darf sich nicht wundern, wenn er mit Fröschen aufwacht. Nun. Ich wundere mich gar nicht. Frösche sind ja an sich keine üblen Tiere. So, wie gelbe sechszackige Sterne aus Stoff an sich keine üble Sache sind. Es kommt immer auf den größeren Zusammenhang an. Je nachdem, wie groß oder klein der ist, wächst oder schwindet die Bedeutung, Dinge und Handlungen werden gut oder böse. Manche sagen, das stimme nicht, dies sei abhängig vom Standpunkt. Das ist natürlich Unfug, denn der Standpunkt ist ja immer derselbe: Alle glauben, sie hätten recht. Deshalb habe ich…

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Der Betrachter

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Gibt es eine Ausfahrt aus diesem Kreis, aus diesem Kreisverkehr, aus diesem Teufelskreis? Verlassen Sie ihn langsam, auf dass Sie nicht hinausgeschleudert werden. An sonnigen Tagen wie heute tragen Sie ruhig einen blickdurchlässigen Rock; so etwas kommt beim Betrachter gut an. Der Betrachter ist ein wohlriechender Mann in der zweiten Reihe. Und aus dieser zweiten Reihe traut er sich zu schauen, einfach zu schauen, wie das Leben der anderen vonstatten geht. Seine Zeit steht, steht, steht stets still – ob er nun will oder nicht, ist von außen kaum ersichtlich. Offenbar lebt der Betrachter in jedem von uns, denn oft…

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Gottes alter Kuchen

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Es regnet seit Wochen. Ich erinnere mich an einen Sonnenstrahl. Einem Zwicken links auf der Innenseite gleich. Wie kann ein Ding auf der Innenseite sein? Und ein Zwicken ist genaugenommen kein richtiges Ding. Man sollte sich säuberlich ausdrücken. Besonders, wenn die Umgebung neuerdings so heruntergekommen ist. Überall bröckelt und wackelt es, als sei die Welt vor langer Zeit aus Rührteig gebacken und anschließend im Küchenkasten vergessen worden. Das stimmt übrigens. Gott war eines Tages voller Freude, denn er erwartete Besuch. Weil er selbst ein Schleckermäulchen ist und zudem kein lausiger Gastgeber sein wollte, buk er einen Kuchen. Unter großem Hosianna…

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