Kurzgeschichten

Obertöne

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Ich mag keine Jahrestage. Anfangs sind die noch aufregend, wenn man keine eigenen Erinnerungen hat, aber irgendwann treffen sich dann Bombenattentat, Geburtstag vom Herzensfreund, der sich mit Absicht zu Tode gesoffen hat und das Jubiläum von Eddy Grants erster Hitsingle am selben Tag und man fragt sich, warum einen nicht längst der Teufel geholt hat, obwohl man weiß, dass der Teufel einen heutzutage holt, indem er einen da lässt, wo man ist. Dazu kommen die Jahrestage der Lebenden, an die man mit vorwurfsvollen Untertönen erinnert wird, weil man das erste gemeinsam gegessene Vanilleeis vor sechs Jahren vergessen hat. So entstehen…

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Ein Schlückchen Magie

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Die Pilger waren von der mehrtägigen Wanderung erschöpft, aber entschlossen, das Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Wilhelm und Abel, die stets zankenden Zwillinge, gesellten sich wieder zur Gruppe, nachdem sie Quartier im Pilgerort gefunden hatten. „Wisst ihr, wer der Herr der Herberge ist, die wir ausgesucht haben? Niemand anderes als der Ur-Ur-Ur-Großneffe zweiten Grades der Heiligen Cassilda selbst“ rief Wilhelm, der wie immer der Wortführer der beiden war, schon von Weitem. „Alles wird gut.“ Die Pilger staunten nicht schlecht und ein spürbarer Ruck ging durch sie. Ja, alles würde gut werden, Kraft durchfuhr sie und sogar die…

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Muscheln im Gebirge

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Leute, die, um zu illustrieren, dass die Dinge sich jederzeit in ihr Gegenteil verkehren können, darauf hinweisen, man habe im Gebirge Muscheln gefunden, sind mir suspekt. Zum einen ist der Ozean nicht das Gegenteil des Gebirges, zum anderen kommen Muscheln auch in süßen Gewässern vor, warum also nicht im Gebirge? Und überhaupt hat man keine Muscheln, sondern lediglich ihre Schalen im Gebirge gefunden. Eine Binsenweisheit bleibt eine Binsenweisheit, auch wenn man sie vor ein imposantes Panorama stellt. Durch eine Kränkung wird die vermeintliche Liebe zu Hass oder wenigstens zu Gleichgültigkeit und die Leute wollen nicht kleinlich erscheinen, deshalb vergleichen sie…

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Kein Ass im Ärmel

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Ein Uhr nachts. Die Uhr, ein steter Mechanismus, starrt mit einem einzigen, tickenden Auge von der Wand. Ich liege im Bett und zähle mehr als achtzig Risse in der Tapete. Ich träume. Erinnerungen an Erinnerungen wie vergilbte Fotos, zerfetzt und unvollständig. Ein Mann mit Hut, ein leeres Schachbrett, eine zerrissene Spielkarte mit dem Aufdruck „Kein Ass im Ärmel“. Der Mann teilt sie wieder und wieder aus. Ich hebe abwehrend die Hand. Zwei Uhr nachts. Ein schrilles Kichern dringt aus der Dunkelheit. Ich drehe den Kopf, sehe aber nichts. Ein Wassertropfen fällt von der Decke, landet auf meinem Gesicht. „Regen?“, frage…

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Kowalskis Besuch

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In der Realschule hatte ich sehr für Kowalski geschwärmt. Freilich war ich nicht die Einzige. Es gab kaum ein Mädchen, das nicht davon träumte, seine Auserwählte zu sein. Bei den Jungs verhielt es sich wahrscheinlich nicht viel anders, aber die trugen es nicht vor sich her wie eine Monstranz. Ich hatte niemals Anstalten gemacht, ihm näherzukommen. Im sozialen Gefüge der Schule hing mir – wie man hier im Süden sagt – der Arsch viel zu weit unten dafür. Da meine Jugendjahre von verschwommenem Unbehagen geprägt waren, fiel das jedoch nicht ins Gewicht. Die kindliche Begierde erschuf ein Band aus schwülstigen…

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Ein neuer Panzer

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Ich hatte mal einen Freund, genauer gesagt, einen Bekannten, noch genauer gesagt war er ein berufsmäßiger Bettler vor dem Laden, in dem ich einzukaufen pflege, jedenfalls, und darauf wollte ich eigentlich hinaus, hatte ich ihn einige Wochen nicht mehr gesehen und allmählich fing ich an, mir Sorgen zu machen. Doch gestern Morgen, ich schloss gerade mein Fahrrad an den zu meinem Supermarkt gehörigen Fahrradständer, kam mein Freund, Bekannter, also der Bettler Kalle, mit Getöse, Gerappel und Geknatter, quietschend und rasselnd, in einem offenen Schützenpanzer auf dem Gehsteig angefahren. Das Brummen und Dröhnen ließ die Passanten sich die Ohren zuhalten; ein…

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Und bist du nicht willig

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Als Kind dachte ich, mein Leben würde in nicht allzu ferner Zukunft durch einen Atompilz beendet. Eine sich mit polternden Schritten nähernde, unaufhaltsame Katastrophe, die mich und alle anderen vollkommen überraschen würde. In einem Augenblick wackle ich morgens mit dem Schulranzen auf dem Rücken die Ludwig-Braille-Straße entlang und im nächsten zerreißt ein Donnerschlag meine Ohren, der grellste Blitz der Welt blendet mich und ein heißer Wind schmort mir den Ranzen ins Fleisch und dann das Fleisch in die Knochen. Oder ich habe Pech und irre noch ein paar Tage blind durch geschmolzene Ruinen, bevor ich an der Strahlenkrankheit sterbe. Selbst…

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Der späte Hermann

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Nicht nur, dass das Ende der Welt greifbar und immanent zu sein schien, die vor vielen Jahrzehnten prophezeiten Wetterextreme waren nicht mehr seriös zu leugnen. Zwar gab es immer wieder Bequeme, die sich die Freuden und Früchte der Arbeit ihrer Vorfahren nicht nehmen lassen wollten, und es waren einige, aber auch ihnen fiel es zunehmend schwer, über die immer länger andauernden Dürreperioden, die Wirbelstürme, die Hitze oder die Schlammlawinen hinwegzulächeln und sich das sommerabendliche Grillgut unbarft schmecken lassen zu können. „Verzicht ist doch auch nur so ein neo-puritanischer Kampfbegriff. Warum wir uns die Stimmung nicht vermiesen lassen? Weil wir’s können…

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Der Chef ist da

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Fröhliches Schnattern und amüsiertes Zwitschern lässt die Wände sanft schaukeln. Mit leichter Hand werfen die Menschen einander Aufgaben und einfühlsame Klatschgeschichten zu. Ein anthroposophisches Tierasyl oder irgendwas mit Gymnastik für die Seele, vermute ich, als ich an dem langgezogenen Bau mit der schmutzrosa Fassade vorüberschlendere. Die Hitze hält die Stadt mit glühender Faust fest und atmet ihr Feuer in den Nacken, doch durch die Fenster des Gebäudes weht ein kühler Hauch von Pfefferminz. Unwillkürlich beschwingen sich meine Schritte und ich lächle sogar ein wenig, doch das vergeht mir sogleich, denn von hinten piekt mich jemand in die Hacken. Ein buckliger…

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Kein Problem

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Iris hasst den Weg zur Praxis. Treppenstufen in nahezu unendlicher Anzahl, der Geruch von ranzigem Bohnerwachs, das Knarren der Dielen im Gang stoßen sie fast magnetisch ab. „Ah, Frau Gleichen, Sie sind spät dran heute. Na, erzählen Sie mal! Was ist denn das Problem?“ In der schattenverhangenen Praxis ist es stickig vom aufwirbelnden Staub der Behandlungscouch und der Decke, die zwar frischgefaltet ist, die aber den Geruch von Katzenurin ausdünstet. Die Katze selbst wird stundenweise ins Nebenzimmer gesperrt. Iris entfernt wie immer, wenn sie hier ist, dünne Haare vom Überwurf. „Kein Problem. Ich lebe, wenn Sie das meinen. Zu meckern…

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