Kurzgeschichten

Zustände

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Neulich ist mir eine merkwürdige Sache passiert. Ich gehe in der Dunkelheit nach Hause, als unter meinen Füßen die Straße stirbt. Bei jedem Schritt spüre ich, wie das Leben aus ihr entweicht und sie hinter mir zu Staub zerfällt. Voller Angst lausche ich, aber ich höre nur das ferne Schluchzen der Wolken und Donnergrollen aus Schweigsamkeit. Meine Patentante, ihren Namen weiß ich nicht mehr, sagte immer: Der Zimmermann im Haus erspart die Axt, mit der man sich sonst nur die Synapsen abhacken würde, aus Ungeschick oder Versehen. Unbehaglich sehe ich mich um, ob jemand das Werk meiner Zerstörung beobachtet. Ein…

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Mit Sicherheit – in Gedenken an Yusuf ibn Taschfin

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Die junge Frau hält sich zur eigenen Sicherheit an ihrer elektronischen Fußfessel fest, ein Gerät, dessen strahlendes Lächeln bis zu mir herüberscheint. Ich kneife die Augen zusammen und messe die Distanz zwischen ihr und mir. Sie fragt entrüstet, warum ich ihr mit meinem Maßband an den Beinen herumfummle. Ich lache nur und fahre fort. Sie erhebt sich, wischt mich wie eine lästige Fluse von ihrer Nylonstrumpfhose. „Was wissen Sie überhaupt von der Macht sozialer Netzwerke?“, schreit sie. „Ahnen Menschen wie Sie eigentlich, unter welchem Druck ich stehe?“ Sie schnaubt verächtlich und verlässt das Zugabteil. Ich bleibe zurück und rolle versonnen…

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Das Schauspiel

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Eine Weile sitzt Pavlik schon auf den Stufen der Veranda und betrachtet das Schauspiel. Ein Mann, gekleidet in Lumpen, wird von einer gewaltigen Welle an den Strand geworfen. Pavlik saugt einen Schluck Kaffee von der linken in die rechte Backe. Als der Mann sich nicht rührt, überlegt Pavlik hinzugehen. Seine Muskeln spannen sich an und er atmet ein, wie Menschen es tun, kurz bevor sie sich erheben. „Will man einen Drecksack erschießen, so ist das Saxophon das Mittel der Wahl.“ Daran erinnert sich Pavlik jetzt und die schleppende Stimme des Majors klingt ihm wieder in den Ohren. Der Ton des…

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Wo Kerker sind, atme ich die Luft meiner Jugend

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Den stieren Blick hat mein Bruder von unserer Mutter geerbt. Am Abendbrottisch belauert mich Etzel und wartet nur darauf, dass mir ein Missgeschick unterläuft. Schon ist es passiert: Drei Maiskörner, die eigentlich sicher auf meiner Gabel lagen, fallen auf ihrem Weg in meinen Mund zurück auf den Teller. Etzel feixt. „Weißt du, woran mich die derzeitige politische Weltlage erinnert?“, fragt er. „An den einen Winter, als du immer versucht hast, deine Füße mit Klarsichtfolie vor der Kälte zu schützen. Weißt du noch? Weißt du noch, wie das ausging?“ Ich nicke und schiebe mit dem Zeigefinger Mais auf meine Gabel. Etzel…

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Nichts geht mehr

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„Tagelang lag ich in der Takelage, in Schonhaltung, wegen einer Zerrung am Gemüt. Nur Bissen vom Gewissen hatte ich zur Nahrung und nichts zu trinken, als ein Tau“, sprach ich zu meinem Freund Ferdinand, bevor er mich fragen konnte, wo ich denn die ganze Zeit gewesen sei, als ich mit zausem Haar und wildem Blick in sein Wohnloch kroch. „Und jetzt?“ Ferdinand hatte stets eine Frage parat, egal wie ausführlich man antwortete. „Jetzt habe ich den vernichtenden Blick erlernt. Von einem schmatzenden Tölpel, der mir die halbe Zeit über im Nacken saß. Ich gucke einmal vernichtend und paff! stehen nur…

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Zivilisation ist ein zerbrechliches Gut

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Wer mag der Herr wohl von diesem Bahnsteig sein? Das Militär ist da, weitgehend unbewaffnet, wie es scheint, mit dem Seesack auf der Schulter und vergangenem Tod im Blick. Die Soldaten grüßen einander zackig, weil sie es so gewohnt sind. Doch irgendwas ist heute anders als sonst. Kleinigkeiten im Verhalten deuten es an; ein kurzes schiefes Lächeln, eine Berührung an der Schulter, die länger dauert als das erwartete Boxen, als der kameradschaftliche Knuff, und eine Plastikblume am Revers, alles deutet auf Abschied. „Wenn ihr dem krummen Gefick einheizt, vergiss nicht, ihnen einen von mir mitzugeben!“ Der gerade dem Stimmbruch entwachsene…

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Das Heutzutage einmal in Willkür betrachtet

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Vor 20 Tagen ging es auf Erden noch ganz anders zu: Wollnashörner, Säbelzahnkaninchen und ein frischverliebtes Anakondapärchen überquerten den Zebrastreifen nahe der Markthalle, wo ich saß und mit den Fingern Rippchen aß. Ein Feuervogel kreiste tief am Himmel, ich schloss daraus, dass es bald Regen geben würde. Und ich täuschte mich nicht: Kurz darauf goss es wie aus löchrigen Schöpflöffeln, es goss Pech und Schwefel, es goss schillernde Batzen. Die Menschen wussten nicht aus, die Menschen wussten nicht ein – sie wussten nicht einmal, wie spät es war und jemals wieder werden würde. Ich hatte einen kleinen Topf zu meinen…

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Schusters Rappen

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In alten Zeiten war es üblich, dass die Wölfe nachts an den Waldrändern herumlungerten und Spaziergängern auflauerten. Heutzutage ist das aus der Mode gekommen. Wölfe gibt es längst nur mehr im Zoo, und Spaziergänger trauen sich nach Sonnenuntergang gar nicht mehr auf die Straße, obwohl es bei Weitem nicht mehr so gefährlich ist wie früher. Nicht einmal mehr richtige Banditen gibt es noch nach Büroschluss. Mesut Özil war das egal. Immerhin war es eine warme Sommernacht und noch Wochen hin, bis zum nächsten Auswärtsspiel. Außerdem war er kein Angsthase. Fernab vom nächtlichen Trubel der Großstadt schlenderte er pfeifend am Waldrand…

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Die Schattenseite der Gentrifizierung

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Ein anderer Tag, die selbe Baustelle: Man hat heute Nacht einen Fuchs gefangen, mit einem einzigen Hammerschlag auf den Kopf getötet und ihm die Haut abgezogen. Das nackte Fleisch hat man den Ratten zum Fraß vorgeworfen. Und überhaupt, die Bauarbeiter haben einen Narren an den Ratten gefressen; sie bringen ihnen Lieder, die fremd in meinen Ohren klingen, und Kunststücke bei. Sie schütten Bier in Helme, um den berauschten Nagern beim Streiten zuzuschauen und um auf den Ausgang der Kämpfe zu wetten. Da wechseln nicht selten größere Summen den Besitzer und mancher Arbeiter musste schon zerknirscht nach Hause schreiben, dass diesen…

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Warten aufs Ego

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Das surrt und brummt und wirbelt um mich herum, dass ich überzeugt bin, das Leben sei ein Abenteuer. Dabei bin ich bloß ein Brummkreisel. Mit fünfundvierzig Umdrehungen pro Minute. Manch einer mag einwenden, etwas mehr dürfte es schon sein. Wenn man dabei mit der Erdrotation und sich selbst im Einklang ist, bringt fünfundvierzig aber größtmögliche Kohärenz und etwas anderes, was ich gerade vergessen habe. Für einen Egotrip dauert das ganz schön lange. Reist man da zum Ich oder hindurch oder drumherum? Die Schlaumeier wissen das bestimmt. Ich hingegen bin in der Altruismusbranche tätig, da darf so etwas keine Rolle spielen….

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