Kurzgeschichten

Spiel der Ungewissheit

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„Ich mache Literatur aus jeder erdenklichen Szene“, sagte er, ziemlich prahlerisch. „Hier, schau dich um! Was siehst du? Den Steg, auf dem du und ich stehen, dort eine leere Rettungsringhalterung, das tiefgraue Meer, die Wolken, die sich türmen. Wir drehen uns um zu den Dünen, da hinten die Buchen, das Liebespaar am Strand, die lehnen sich gegen den Wind und halten sich an den Händen, als würde der andere sonst von einer Böe fortgerissen, vier, nein, fünf Möwen. Das perfekte Setting. Jetzt fehlen uns noch ein paar Zutaten für die Handlung. Ein Konflikt. Aber was guckst du mich schon wieder…

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Kein Text

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Heute ist mir gar nicht nach einem Text. Mir ist nach leeren Worten, die in aufmunternden Hülsen stecken, dazu ein possierliches Tier im Sonnenaufgang und Seifenblasen. „Sei das Lächeln, das du auf der grässlichen Fratze im Spiegel sehen möchtest!“, will ich Ihnen zurufen. Dazu stellen Sie sich bitteschön ein Orang-Utan-Baby vor, das einen Seemannskragen trägt und eine Banane isst. Im Hintergrund spielt ein Pandabär auf dem Akkordeon. Wenn es Ihnen davon nicht besser geht als mir, ist das nicht meine Schuld. Ich habe getan, was in meiner Macht steht. Schließlich kann ich mich nicht um alles kümmern. Und ich habe…

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Sugestio

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Sie sagt: „Fische schwimmen, Fische essen, schwimmen, werden gegessen.“ In einer grauen Stadt, es wird Mitte Oktober gewesen sein, wachsen in jeder Straße Aquarien auf Fensterbänken, fest verankert in den Bleibeschichtungen der Simse. Er sagt: „Seien Sie nicht schüchtern, Sie können mir ganz unbesorgt Fotos Ihrer Brüste schicken.“ Jeder, der eines dieser Aquarien bekommt, erlebt eine Verwandlung und gewinnt neuen Lebensmut. Sie sagt: „Man kann aber auch so tun, als müsste man nur so tun.“ Der Satz kommt ihm merkwürdig vertraut vor und das sagt er ihr. Sagt sie: „Haben Sie selber erst neulich gesagt. Aber ich schicke Ihnen erstmal…

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Ausnahmsweise

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„Im Grunde habe ich kein Interesse an der Menschheit und dem scheußlichen Gebräu, das sie Tag um Tag aus Hochmut, Gezänk, Rechthaberei und Blutdurst zubereitet und dann als Tunke für die weitgehend geschmacklosen Meinungen herumreicht.“ Die Schuhe des Landstreichers waren zerlumpt, so dass Alfred Pelzfuß sehen konnte, wie die schmutzigen Zehen darin wackelten. „Was soll das denn heißen Im Grunde?“, fragte Alfred. „Das klingt irgendwie so, als würden Sie heute eine Ausnahme machen.“ Der Landstreicher ruderte mit den Armen und der Geruch von altem Schweiß und lange getragener Unterwäsche wehte zu Alfred Pelzfuß hin. Er wandte das Gesicht ab und…

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Kraft, die ihresgleichen sucht

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„Wer produziert denn hier wieder Strom?“ Vaters Stimme klang ungehalten. Wir Kinder schauten einander betreten an. „Ich seh es doch auf dem Zähler; irgendjemand hat hier wieder Strom produziert.“ Seit uns Onkel Werner letztes Jahr zu Weihnachten einen seiner handbetriebenen Dynamos mitgebracht hatte, war die Stimmung bei uns zu Hause schlecht. Vater wollte nicht im Kreise seiner Angehörigen als Energie-Bittsteller dastehen, vor allem nicht vor seinem älteren Bruder Werner, der schon immer das schlohweiße Schaf der Familie gewesen war und der, seitdem ich mich erinnern konnte, ein Auge auf meine Mutter geworfen hatte. Meine kleine Schwester fing an zu weinen….

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Die Kunst des Zurücknehmens

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Wenn man bei uns im Hof etwas Unpassendes sagte, wurde man vom dicken Schorschi in den Schwitzkasten genommen und bekam einen Hagel von Kopfnüssen verpasst. „Nimm das zurück, nimm das sofort zurück!“, knurrte er und ließ einem Schweißtropfen ins Genick fallen. Irgendwann japste man „Ich nehme es zurück!“, bekam noch einen letzten Schlag auf den Hinterkopf und die Sache war erledigt. Bald wählten wir unsere Äußerungen mit Bedacht, was nur mäßige Sicherheit mit sich brachte, denn Schorschis Maßstäbe an das Sagbare waren wechselhaft. Oft habe ich mich gefragt, wo all die zurückgenommen Sätze wohl hingingen. Vielleicht schrieb sie eine geheime…

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Der Bücherfreund

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Ich habe die Faxen dicke. Ich habe kaum noch Luft zum Atmen. Hier muss mal gründlich aufgeräumt werden. Ich schmeiße alle meine Bücher weg. Behalte nur die, die ich selber oder Leute in meinem unmittelbaren Umfeld geschrieben haben. Und die Bücher, die mir mal etwas bedeuteten, kann ich eigentlich auch schlecht aus der Wohnung werfen – die bleiben hier. Sowie die Bücher, die ich immer noch lesen wollte. Sind ja schon bezahlt. Wäre doch schade ums Geld. Aber sonst mache ich reinen Tisch. Mit allem, allen Büchern. Mit dem hier beispielsweise: ‚Geständnisse eines Top-Terroristen – Theodor Heuss Anekdoten‘, herausgegeben von…

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Der Einklang

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Margarete Pelzfuß schnupperte misstrauisch, als sie ihren Briefkasten öffnete. Zwischen zwei Standardbriefumschlägen klemmte ein gelbliches Kuvert und verströmte einen ihr entfernt bekannten Duft. Sie zog es mit spitzen Fingern heraus und ließ die beiden anderen unbeachtet liegen. Eine prächtig bunte Briefmarke klebte schief in der oberen Ecke und ein Poststempel mit Wellenmuster verdeckte einen Großteil der Adresse. Margarete schnupperte erneut und eine Mischung aus Orangenschalen, Waldpilzen und muffigem Handtuch kitzelte ihre Nase. Der Brief war zweifellos von ihrem Vetter Knut. Was konnte der bloß wollen? Sie hatte nichts mehr von Knut gehört, seit er vor zwanzig Jahren nach Borneo gereist…

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Das innere Schafott

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„Rache ist nicht mehr gefragt. Der Hass soll ja jetzt abgeschafft werden.“ Sven, der sich, wie es um diese Jahreszeit seine Art war, als Kaiser Marc Aurel verkleidet hatte und verdächtig lang vor dem Fenster stand, um sich von den Kindern im Hof in seiner ganzen Pracht bewundern zu lassen, sprach leise wie im Selbstgespräch. Und wie immer ein wenig überakzentuiert. Dann drehte sich zu mir um. „Ist dir das noch gar nicht aufgefallen?“, sagte er gedehnt. „Die Mächtigen wollen nicht, dass wir hassen. Und so nehmen sie uns die Begriffe für Hass.“ Ich kenne Sven nun auch schon länger…

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Uneins

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Ich habe den Krieg satt. Und das, obwohl ich ihn nur aus den Nachrichten kenne. Ein Vorurteil quasi. Kriege und Vorurteile sind verbreitet im Reich der Kiefermäuler, bloß bei der Menschheit sind sie zugleich unbeliebt. Wir unterscheiden uns von den Ameisen, indem wir uns nicht entscheiden können. Wir möchten edel, hilfreich und gut sein, ohne zu wissen, wie wir das zuwege bringen sollen und blicken voller Neid oder Ungnade auf jene, denen es besser oder schlechter gelingt als uns selbst. Ich sage Ihnen was: Auch davon habe ich genug. Dieses Streben nach Höherem, Schönerem, Besseren, soll ein für allemal vorbei…

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