Der Becher

Viel zu selten kommt die Frage auf, worin eigentlich die Menschlichkeit besteht, gegen die immer wieder irgendein Bösling ein Verbrechen begeht. Die Leute senken betreten die Stimme oder heben sie voller Empörung – je nach Temperament – wenn sie über den Übeltäter sprechen, doch scheint die Menschlichkeit etwas zu sein, das nur sichtbar wird, wenn man sie schubst oder boxt. Im Alltag hört man kaum etwas von ihr. „Ich bin auch nur ein Mensch!“, pflegte mein Onkel Maximilian, Busfahrer und Sozialdemokrat, auszurufen, wenn meine Großmutter ihn rügte, weil er uns Kinder zwang, seinen käsigen Schwanz abzulecken. Gestern traf ich ihn nach vielen Jahren wieder. Ein bejammernswerter Greis, gebeugt unter einem Buckel, wie man ihn sonst nur in alten Filmen zu sehen bekommt. Er stand an der Straßenbahnhaltestelle und bat die Passanten, ihm Münzen in einen schmutzigen Pappbecher zu werfen. Angeblich, um sich ein Brötchen kaufen zu können. Ich widerstand dem Impuls, den Becher mit einem Fußtritt ins Gleis zu befördern und eilte stattdessen klammen Schrittes nach Hause. Da sitze ich nun und frage mich, worin eigentlich die Menschlichkeit besteht.