Die Fußgängerin

Spare in der Not, so wirst Du im Überfluss reichlich haben, dachte eine Fußgängerin, die über eine Brücke ging, um die Eisenbahngleise der großen Stadt, in der sie lebte, zu überqueren. Ein Stückchen hinter dem Brückenmittelpunkt lehnte ein Mann gefährlich weit über das Geländer.

„Pass auf, sonst fällst du runter!”, rief sie ihm zu und wollte weitergehen. Doch der Mann beugte sich noch tiefer über die Brüstung. Die Fußgängerin überlegte, den Mann zu überreden, seine Absicht zu überdenken.

Der Mann kam ihr zuvor. „Siehst du die Löwen dort unten? Sie sind hungrig. Die Löwenmutter kann ihre fünf Kinder nicht mehr ernähren.” Die Fußgängerin schaute vorsichtig hinunter. Ihre Hände umfassten das Geländer fest. Sie sah die Löwen zwischen den Gleisen, sah die Löwin auf dem Boden liegen, um sie herum die Löwenbabys, zu schwach um gerade zu stehen. Die Fußgängerin sah die ausgemergelten Körper und fragte den Mann: „Was wirst du tun?”

„Ich werde mich hinabstürzen und meinen Körper den Löwen zum Fraß darbieten.” Die Fußgängerin glaubte den Mann zu verstehen und war voll Trauer, als sie auf der anderen Seite der Brücke ankam. Sie sah sich um – der Mann war verschwunden. Nur seine Sandalen standen noch an der Stelle, wo er auf die Gleise gesprungen war. Ich hatte unrecht, befand sie, wer im Überfluss wenig hat, spart nicht erst in der Not. Und sie entschied, sich auf eine Bank zu setzen, um die Zugvögel zu beobachten.

Da kam ein Mann des Weges, der aß eine Blätterteigtasche mit Spinat. Er blieb vor der Fußgängerin stehen und sprach zu ihr: „Ich esse einen Börek, und doch ist in mir Magie. In mir wächst Bösartiges. Gerade jetzt, wo ich mit Ihnen spreche.”

„Das ist ja schrecklich”, sagte die Fußgängerin.

„Schrecklich und doch magisch”, erwiderte der Mann. „Die Grundzüge des Magischen sind auf jeden Fall enthalten. So wie ein Tropfen Wasser genügt, um das Wesen des Wassers zu erfahren – so wie ein Sandkorn das Geheimnis allen Sandes in sich einschließt.”

Und der Mann spuckte ein Sandkorn aus. Die Fußgängerin sah ihn an und musste lachen. Der Mann lachte auch und ging. Das bemerkte die Fußgängerin jedoch erst, als ihr Lachen verhallte und sie sah, dass es längst dunkel geworden war. Ich glaube, jetzt habe ich es verstanden, dachte sie. Erst wer sich den Überfluss spart, hat wenig in der Not.