Begegnung mit dem Gesundheitswesen

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„Ich hasse es, schlecht vorbereitet zu sein.“ Völlig unerwartet richtete der ältere Herr neben mir im Wartezimmer das Wort an mich, nachdem wir bereits 15 Minuten schweigend nebeneinander gesessen hatten. Ich blickte ihn aus meinem müden Gesicht an und nickte unwillentlich. Die Stimme des Mannes war heiser verschleimt. Er räusperte sich und fuhr fort: „Ich bin kein Unruhestifter oder Störenfried, beileibe nicht, aber wenn ich in meinen berechenbaren Gewohnheiten gestört werde, reagiere ich mitunter äußerst gereizt.“ Wieder nickte ich, das Gefühl kenne und teile ich. Auch ich konnte unwirsch werden, wenn sich meine Erwartungen nicht mit den Gegebenheiten in Übereinstimmung…

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Auf der Galerie

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Ein neues Gesicht, 480 g Abtropflebendgewicht; mein Haus ist voller Löcher. Mit Gesichtern, die schweigend aus ihnen in den Hof glotzen. Obwohl ich sie nicht füttere, werden sie täglich fetter und fetter, kippeln nach vorne, lassen sich Doppel-Doppelkinne wachsen. Ein Haus mit Fenstern, mit Köpfen drin und jedem wächst ein Doppel-Dreifach-Vierfachkinn. Täglich werden die Tonnen geleert. Der Müll wird tonnenweise weggeschafft und aus dem Weg gekehrt. Ich gucke weiter, spucke in eine rostige Dose, in ein Schüsselchen voll Gold, murmle agnostische Gebete, die mir mein Vater auf seinem Sterbebett, an seinem Ehrentag, zum Schluss ganz ohne Pfeifentabakrauch, Zug um Zug,…

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Rorschachs Quatsch

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Letztens, ich saß an meinem Schreibtisch mit gespitztem Bleistift, vor mir ein geöffnetes Notizbuch, bekam ich Nasenbluten. Nicht den Kopf in den Nacken legen, bloß nicht den Kopf nach hinten! Ich ließ ihn also nach vorne hängen und Blut tropfte über meine Nasenspitze auf das Papier. Allmählich bildeten die Tropfen Muster und Formen. Kaum dass ich in der oberen Ecke der Seite das Gesicht Hermann Rorschachs erkannte, richtete er bereits das Wort an mich. „Es ist meine feste Überzeugung“, sagte er mit unverkennbar schweizerischer Färbung im Tonfall, „dass der Rock ’n‘ Roll jeden Krieg, jeden bewaffneten Konflikt seit 1957 zu…

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Consilium

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Kaum-Ich: Ich frage mich immer, was du so machst, wenn ich nicht bei dir bin. Nicht-Ich: Denk. Denk. Denk. Kaum-Ich: Ich meine, was siehst du? Was tust du? Nicht-Ich: Denk. Denk. Denk. Kaum-Ich: Genau. Woran denkst du? Nicht-Ich: An nichts Bestimmtes. Ich denke vor mich hin. Mal dies – meist das. Kaum-Ich: Und dabei kommst du dir nicht nicht komisch vor? Was nutzt es, einfach nur vor sich hin zu denken? Solltest du nicht vielmehr zielgerichtet denken? Nicht-Ich: Hm – nein. Kaum-Ich: Aber wenn wir zusammen sind, da passiert es dir doch hoffentlich nicht. Nicht-Ich: Was denn? Kaum-Ich: Naja, dass…

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Das neue Normal

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Ich bin nicht müde. Wirklich nicht. Ihr mögt müde sein, ständig müde sein, aber nicht ich. Ich bin nicht müde. Ihr vielleicht, aber ich nicht. Das sagte ich bereits, sagt ihr? Mag sein. Ich bin voll Kraft, voll wacher, unbändiger Kraft, da schweifen selbst dem Wachsten schon mal die Gedanken in die Ferne. Dem Wachsten unter uns. Und der mag ich ohne Mühe sein. Ohne Mühe, ohne Mühe, ohne jemals müde zu sein, ohne müde zu werden. Ich war noch nie so wach wie heute, wie gerade jetzt, nicht eben und nicht gestern. Jetzt bin ich wach und ihr seid’s…

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Die Entdeckung des Buckligen

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Die Luft ist feucht im Keller, es riecht entsprechend modrig. Der Bucklige öffnet einen Verschlag und bittet mich einzutreten. „Das ist das Allerheiligste. Nur wenige Menschen haben es je zu Gesicht bekommen und noch weniger können davon berichten.“ Eine „wissenschaftliche Sensation“ war mir angekündigt worden, ein „Durchbruch“. Nichts weniger erwarte ich jetzt und ich muss an mich halten und mich bemühen, meine Enttäuschung zu verbergen, mir meine Unzufriedenheit nicht anmerken zu lassen, als der Bucklige das Licht anknipst und ich sehe, dass sich außer einer alten mannslangen Kiste aus Holz nichts im Verschlag befindet. „Künstliche Intelligenz bei körperlicher Vollkommenheit ist…

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Theologie des Alltags

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„Ewiges Leben ist kein Heilsversprechen“, sagt der Mann mit dem blauen Frottee-Cape und sieht sich verstohlen um. „Ewiges Leben ist eine Drohung.“ Er flüstert, sein Zuhörer kann ihn kaum verstehen. Der Zuhörer nickt wie einer, der zwar prinzipiell zustimmt, aber trotzdem noch einige Fragen hat und dem die ganze Heimlichtuerei eigentlich zuwider ist. Der Mann mit dem Cape rückt näher, um die Stimme noch weiter zu senken. „Die östliche Sichtweise auf Leben und Sterben ist meiner Meinung nach äußerst zutreffend.“ Der Zuhörer kennt die östliche Sichtweise nicht, verkneift sich jedoch eine Nachfrage diesbezüglich. Er zieht einen Plastikrevolver aus der Tasche…

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Vorkommnis

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„Kindereien“, sagte er, als ich ihn auf seine Probleme ansprach. „Nicht der Rede wert, wirklich.“ Ich bewunderte seine lässige Art, mit Angelegenheiten umzugehen, die einen anderen Mann sicherlich erdrückt hätten. Im Gegensatz zu beispielsweise mir ließ er sich niemals unterkriegen, er schien mit jedem Widerstand zu wachsen und konnte sich an allen Schwierigkeiten zu voller Größe aufrichten. Was er an mir fand, verstehe ich bis heute nicht. Vielleicht war es das Brüchige, das mir zweite Natur geworden war und das ihm gänzlich fehlte. Vielleicht war es mein unaufdringliches Naturell, das ihm viel Raum zur Entfaltung ließ, ich weiß es nicht….

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Hyperlink

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Die Welt lebt in meinem Schuh. Die Erde, der Graue Planet, und alle, die auf & über ihr existieren, gerade geboren werden oder im Begriff sind zu sterben, lassen meine Sohle erzittern. Vibrationen, die mein Körper missdeutet und in Worte und Gedanken verwandelt. Worte und Gedanken, Dieses und Jenes prasseln stetes Prickeln. Die Welt ist Rauch, dampft mir der Kopf, heben sich Schwaden von der Stirn und formen Wölkchen, aus denen es spitz und kalt herab trommelt. Ein Kreislauf wie Wasser und Strom, Aggregatzustände wechseln und hinterlassen Haufen aus Plasma und negativer Spannung: Oh, ihr Freunde, aufgewacht! Die Frühjahrssonne lacht…

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Superesse in Nivis

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Hans Löser kämpft mit den Schneeflocken. Sie umschwirren ihn, schwärmen aus und sammeln sich wieder in Böen, greifen an und peitschen sein Gesicht. Was hatte sie zum Abschied gesagt? Er wisse nichts vom Leben, von der Liebe, vom Beieinander. Hans Löser seufzt und schlägt mit der Faust ins Glitzern um seinen Kopf. Er weiß sehr wohl von der Liebe, weiß, wie sie glüht, weiß, wenn sie lodert. Wie es ist, wenn der Sturm die Flammen links und rechts ohrfeigt. Hans Löser duckt sich und windet seinen Körper. Da packt ihn ein Windstoß im Genick, drückt ihn zu Boden, ins frostig…

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