Du & Ich-Ich-Ich

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In den letzten Zügen gelegen, im ersten Zug gen Süden gesessen, durch Tunnel, über Brücken, überbrücke ich Unzulänglichkeiten mit Anzüglichkeit – die Uhr bleibt stehen, die Zeit will nicht vergehen, zerrinnt stattdessen wie Fußspitzen vor müdem Blick. Knie wund und (was fast noch schlimmer ist) Rücken rund vor Kümmernis. Du bist anders als die anderen, denn du bist ausgedacht, setzt dich zusammen aus allen, die ich jemals kannte, ich nannte dich wohl zwanzigmal die Eine, du bist das Meine, du bist ich, gespiegelt im Ich Liebe Dich. Ich bin die Luft zum Atmen, sagst du, doch wer bin ich denn,…

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Zeit

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Mein Tag dauert 365 Jahre, mein Tag fliegt vorbei; ich habe mich verzählt, die Augen auf und wieder zu. Gerade liegen die Kinder noch in meinen Armen, sitzen auf dem Schoß & machen Hoppe-Hoppe-Reiter, dann Abitur, unternehmen Reisen, fahren bald Auto, sind eigene Menschen. Ich strecke mich, alle Momente vergangen, verflüchtigen sich, sind steter grüner Nebel. Das Leben ist anders, dachte ich und jeder Augenblick wär um ein Haar die ganze Ewigkeit (und zwei Tage, die du streichen dürftest). „Wenn du sagst“, sagst du, „ich dürfe zwei Tage streichen, frage ich, zerreißt das nicht das Gewebe der Zeit für mich…

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September

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Die Hexen feiern Herbstanfang, der Gesang der verbleibenden Vögel verändert sich. Heute Morgen, es war der erste im diesjährigen September, habe ich das Lied des Rotkehlchens erstmals nicht erkannt. Es klang wie eine Rabenkrähe im aufsteigenden Nebel. „Rotkehlchen, was haben Sie für eine schreckliche Stimme?“, fragte ich und es antwortete missbilligend: „Damit ich besser vor dem kommenden Unglück warnen kann.“ Dann sagte der Vogel etwas, das ich nicht sofort verstand. Irgendwas mit ‚Mariechen‘, ich fragte nach. „Im Übrigen mag ich nicht, wie Sie riechen“, wiederholte das Rotkehlchen. „Und ich mag nicht, wie SIE riechen!“, erwiderte ich, doch es war nur…

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Am Tag, als der Regen kam

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Öffentliche Verkehrsmittel haben den Vor- und Nachteil, an den Gesprächen und manchmal auch an den Gedanken der Menschen um einen herum teilhaben zu können. „Todesverachtung ist ja ein hohes Gut. Den inneren Battle gegen Thanatos auszufechten, bringt überhaupt erst Coolness hervor“, sagte ein Mann neben mir mit unangenehm verstellt klingender Stimme. Wir Mitfahrenden schauten einander an. Ich weiß nicht, was der Gesichtsausdruck der anderen ausdrückte, meiner sollte jedenfalls gleichsam Amüsement und mildes Verständnis vermitteln. „Und mit einem Mal wird das Leben millionenfach besser. Es lebt sich leichter, wenn man auch die Existenz seiner dunklen, zerstörerischen Seite anerkennt und sich nicht…

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Für die Verdrängten

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Guten Tag, Entrückter! Guten Abend, gute Nacht – wie hast Du denn Dein Leben bis zum heutigen Tag, bis zur jetzigen Stunde verbracht? Verbraucht siehst Du aus, geschlaucht von Leben, Liebe und schlechter Ernährung. Du willst eine Erklärung für Deinen Zustand? Der Hang zum Bett, die Gier nach Salz und Fett, das zehrt. Das zerrt an Dir und würde wohl an jedermann. Eine Fiesta findet statt. Eine Kapelle spielt. Menschen tanzen und lachen. Hoffentlich schöpfst Du im Gegensatz zu mir Kraft aus dieser Art Veranstaltung. An einigen Tagen ist der Abgrund nur eine Ecke von der Hauptstraße entfernt. Ich erkenne…

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Die Zeiten waren schon mal besser

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An einem dieser lauen Sommerabende saß mir meine sehr mondäne Bekannte Emilia Saloppi beim Abendessen in einem schlecht besuchten Gartenlokal gegenüber. Ihre ungeheure Weitläufigkeit ließ sie in einem lieblos angerichteten Tomatensalat stochern. Ich weiß nicht mehr, wie wir ursprünglich darauf gekommen waren, jedenfalls hatte das Thema ‚Präejakulat – Segen oder Fluch?‘ eine hitzige Wendung genommen. „Ich würde dich bitten“, sagte ich schließlich mit ermattender Stimme, „aufzuhören, es die ganze Zeit ‚Eichelspeichel‘ zu nennen.“ Was ich gegen diesen Begriff hätte, sie wäre sehr stolz auf die Wortschöpfung. Ich winkte ab und fragte, ob sie ihren wirklich unappetitlichen Salat noch essen würde,…

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Das Schulterzucken

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„Menschen sind keine Krustentiere. Quatsch, ich wollte sagen: Menschen sind keine Rudeltiere. Ein ehemals sehr schlanker Mann ist hingegen kein Krustenbraten. Und Menschen, wie bereits erwähnt, keine Rudeltiere. Da das jetzt aus der Welt geschafft und geklärt ist, komme ich zum eigentlichen Anliegen meines heutigen Besuchs bei Ihnen hier in der sommerlich warmen U2. Ich spiele kein Instrument und ich könnte nicht singen, wenn mein Überleben davon abhängig wäre und trotzdem, oder gerade deshalb, würde ich Sie bitten, mir mit ein wenig Kleingeld oder ein paar Brotkrumen auszuhelfen.“ Nicht dass ein Bettler in die U-Bahn gestiegen war, verwunderte meine Mitpassagiere…

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Fingerling und Nasenring

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Zuuuuu-rückbleiben, bitte! Zurückgeblieben sind zwei Opiatsüchtige und ich. Einer von beiden kniet vor den Löchern des Gitters einer bewusst unbequem gestalteten Sitzgelegenheit in einem U-Bahnhof meiner Wahl und bereitet sich und seiner Suchtkameradin jeweils eine Dosis zu. Seine Hände zittern stark, doch ist sein Unwohlsein nichts im Vergleich zu ihrem. Die Hände seiner Begleiterin greifen graue Luft, die aus den Schächten, aus beiden Tunnelenden, auf den Bahnsteig gedrückt wird – ihr Körper zuckt. Konvulsion folgt Konvulsion, Krampf löst sich, wird von neuem Krampf verdrängt. – Mach! Mach! Mach! – Ich mach ja schon. – Schon reicht nicht. Wie lange noch?…

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Liebe-Liebe-Liebelei

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Er trat zu ihr und sprach: „Ich hab dir ein Gedicht geschrieben.“ Sie schaut ihn an und freut sich. Er hoffte auf Anerkennung. „Ich hab’s dabei“, sagte er. „Willst du es hören?“ Zwar hat sie gerade keinen Kopf für Lyrik, lächelt aber über den Umstand hinweg. Er faltete das parfümierte Blatt mit großer Geste und wichtiger Miene auf und hob an: „Oh Schönste! Aus des Schöpfers Stirn entsprungen bist ein Bild du nur und doch -“ Sie schaut ihn an, erwartet, dass er fortfährt und sieht das Entsetzen in seinem Blick. Er wurde blass und blässer, blähte die Backen und…

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Aus: Die fabelhafte Welt des Daneli – Ein Schelmenroman

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Er lag in seiner ihm eigenen sperrigen Grazie auf seinem Diwan, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die leere Zigarettenspitze zwischen den Zähnen, und diktierte einer ebenso schmalschultrigen wie schmallippigen Griechin wirre Wortfetzen, die diese eifrig in einem Heft niederschrieb. „Wendezeiten, Zeitenwende, Zeitenende, stocksteif gefroren und Jahrzehnte verpufft. Wer ruft, wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ Verlegen und verloren stand ich mit roten Ohren im Türrahmen, unschlüssig, ob der große Meister durch meine Anwesenheit in seinen Gedankenwelten gestört werden dürfe. Doch er wies mir mit einem Augenzwinkern den Platz an seiner Seite zu und fuhr heiser knarzend fort, als…

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