Gliederfüßlers Pilgerreise

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Als Kind hatte ich einen Gliederfüßer zum Freund. Nicht so einen hässlichen, wie sie dieser Tage überall umherkrabbeln, sondern einen Dreilapper aus gutem Hause. Abends saß er auf meinem Kopfkissen und erzählte mir nordische Sagen zum Einschlafen. Dabei sabberte er aus seinem Urmund. Mich focht das nicht an, denn seine Spucke schmeckte nach Kaubonbons. Damals wohnten wir noch im Kambrium. Der Weg zur Ganztagesbetreuung war weit, bei Regen war ich oft mehrere Tage unterwegs. Der Trilobit vertrieb mir die Zeit und unliebsame Kameraden, von denen ich sonst sekkiert wurde. Eines Tages verabschiedete er sich unter dem Vorwand einer Pilgerreise. Ich…

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Ein Minutenvogel

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Von meiner Großmutter habe ich einen Minutenvogel geerbt. Ein Tier ohne jeden Nutzen. Schönheit ist er auch keine. Nicht einmal fliegen kann er. Tagein tagaus hockt er in seinem Käfig, flappt ab und an mit den Stummelflügeln und schreit nach Nahrung. So ein Minutenvogel frisst fünfzehn bis zwanzig Uhren am Tag. Das geht ganz schön ins Geld, denn Plastikuhren aus Taiwan verschmäht er. Es müssen Markenfabrikate sein oder wenigstens Sanduhren. Mit seinem Schnabel schnappt er durch die Gitterstäbe des Käfigs. Manchmal kommt Besuch. Dann werde ich gefragt: „Was ist denn mit dem Pinguin los? Ist er krank?“ Niemand hält einen…

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Unter der Eckbank

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Bis zum heutigen Tage herrscht unter Fachleuten wie Laien gleichermaßen Uneinigkeit über die Person Debussy. Was dem einen als Beweis für dessen Tätigkeit als Komponist im Frankreich des 19. Jahrhunderts gilt, tut der andere als Fälschung ab und pocht auf antike Steintafeln, in die Verfügungen des Pygmäenherrschers Debussi I. eingeritzt sein sollen, doch schon erscheint ein Dritter mit einem mittelalterlichen Kupferstich. So geht das immer weiter und das Einzige, worauf die Leute sich einigen können, ist die alljährliche Debussy-Sternfahrt nach Enghagen am Tabor, zu der meinen Großvater Juli für Juli die gesamte Familie begleiten musste. Im Gegensatz zu den Reden…

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Gespräche mit Tacheles

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Zwischen den Jahren besuchte ich meinen Bruder Tacheles im Pflegeheim. Wie immer brachte ich ihm eine wohlriechende Salbe mit, für die tiefen Furchen in seiner Stirn, die er vom dauernden grimmig Dreinschauen bereits seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte. Er warf das Töpfchen aus mattem Glas achtlos in eine Schublade. Schon ein paar Tage vor meinem Besuch aß ich nur noch Tütensuppe und trug zu enge Rollkragenpullover aus Synthetikfasern, die meine Haut zerkratzen und in der Dunkelheit boshaft Funken sprühten. Er sollte ja nicht denken, ich hätte ein schönes Leben. Mit großem Argwohn musterte er mich, suchte in meinem Gesicht und…

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So ein schnappendes Geräusch oder das ist ja ein Imitat

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So ein schnappendes Geräusch, wie von einem Fallbeil für Kinderzehen. Niemand horcht auf, die Sorge um die Unversehrtheit der Zukunft berührt hier nicht. Funktionskleidung in gedeckten Farben. Dicht bis 7000 Irgendwas Wassersäule. Das hätte Lot brauchen können. Oder war das Lots Frau? Nein. Nur ein hagerer Mann in buntem Neopren betritt energischen Schrittes das Bahnhofslokal mit der automatischen Glastür. Die macht so ein leise schnappendes Geräusch, wie ein Fallbeilspiel für Kinder. „Vererhrte Funktionskleidungsfunktionärinnen und Funktionskleidungsfunktionäre! Willkommen bei unserer kostenlosen Wassersäulengymnastik. Ein Serviceangebot von Standard & Poor, der Ratingagentur der Herzen. Mein Name ist Hubsi, und wir beginnen heute mit der…

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Ehrenamt Europa

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Ein Gespenst geht um in Europa. Das habe ich in der Zeitung gelesen. Am Zeitungskasten, genauer gesagt. Ich bin empfindsam gegen das Leid der Welt. Von einer ganzen Zeitung bekomme ich Sodbrennen. Allerdings, vom Gespenst wusste ich schon vorher. Donnerstags sucht es mich heim. Es rüttelt an meinen Zähnen und heult. „Kapital! Kapitaaaahaaahaaal! Hast du schon welches? Hast du, hast du, hast du, hast duhuhuhuuu welches?“ Dann piekt es mich mit knöchernen Fingern in den Bauch. „Sag, sag, sag, sag, sahahahaaag, hast du genug Kaaahaaahaapihiiihiiitaaahaahahaaal?“ Es springt auf meinen Rücken und zaust mir das Haar. „Man kann nie, nie, nie,…

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Bartuneks Scheu vor der Leere

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Kurz vor dem Morgengrauen erwacht Bartunek von seinem eigenen Ringen nach Atem. Schnell wie eine Fledermaus entweicht das Wesentliche aus ihm, umschwirrt noch ein, zwei Mal die Schlafzimmerleuchte, bevor es sich flach in eine der oberen Ecken des Raumes drückt. Wenig später drängt sich Bartunek zwischen den aufgerissenen Türen in den überfüllten Bauch der Bahn. Er bahnt sich seinen Weg, hinter einer Frau mit glatt zurückgebundenem Haar kommt er zum Stehen. Er atmet ihr ein Loch in den Nacken. Dazu braucht er nicht länger als eine Station. Ein Schwarm winziger Spatzen kommt aus dem Löchlein geflogen und hinterdrein hallen die…

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Der entmenschte Doktor Quarz und die anmutige Zanona

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Eine Nebelkrähe und eine Saatkrähe vermag ich am Geräusch ihres Flügelschlags zu unterscheiden. Als ich vierzehn Jahre alt war, schickte mich mein Vater bei einem Taugenichts in die Lehre. Sieben Jahre blieb ich bei ihm, einem älteren Herrn mit nervösem Tick am linken Auge. Ich litt unter Heimweh und seinem Gejammer über den Niedergang und die rohen Sitten. Jeden zweiten Montag schickte er mich auf den Markt im nahegelegen Städtchen zum Herumlungern. Ich langweilte mich schnell unter den vielen Menschen. So schlich ich mich oft davon, in ein schäbiges Viertel mit engen Gassen, fernab vom Trubel des Marktplatzes. Dort begegnete…

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