Die Nachbarin

Ich traf heute die Nachbarin. Im Hof. Sie trug ein geschmackvolles rotes Oberteil, dessen bin ich mir ganz sicher.
Ich schmunzelte, weil ich mich an ein Gespräch erinnerte, das wir mal in der Stadt geführt hatten, und in dessen Verlauf relativ schnell offensichtlich wurde, dass sie mich außerhalb unseres Wohnblocks nicht richtig zuordnen konnte und mich mit jemanden verwechselte.
Gut sähe ich aus, viel besser als beim letzten Mal. Wann ich denn mal wieder ins Taj Mahal käme, der Stammtisch würde sich jetzt immer dienstags treffen. Spätestens da hatte ich Gewissheit. Das Taj Mahal war mir nur vom Vorbeigehen bekannt und nie als ein Ort von gutem Ansehen erschienen. Ich hatte die Gute damals in ihrem Fehlglauben gelassen.
Heute nestelte sie an ihrem rostigen Fahrrad; ich drückte mich vor einem Gespräch an ihr vorbei und wechselte schnell die Straßenseite, da ich ein Baby witterte.
Ich liebe Babies. Ein Mann trug sein circa sechsmonatiges Kind in einem praktischen Sack vor der Brust, die nackten Füßchen schauten links und rechts heraus.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Väter es nicht sonderlich schätzen, wenn sich Fremde an der Nachkommenschaft zu schaffen machen und so fragte ich erst gar nicht um Erlaubnis, sondern griff mir einen Kinderfuß und küsste die zarte Sohle.
Als ich blutverschmiert, gemeinsam mit den Passanten, die mich zu Boden geworfen hatten und mich festhielten, auf die Polizei wartete, sah ich auf der anderen Seite wieder die Nachbarin. Sie schob ihr Fahrrad und ich hätte schwören können, dass sie jetzt ein grünes Top trug. Vielleicht habe ich mich aber auch getäuscht.