Literarisches

Nassrasur

By

Am Ende des Sommers blökt eine Stimme Kauderwelsch aus einem Lautsprecher. Irgendwo in der Ferne, hinter dem Gezwitscher der Vögel. Der Stadtteilvertreter einer Partei, den es in die Hauptstadt zieht, vermute ich. Obwohl nichts zu verstehen ist, beunruhigt es mich. Dem Barbier, der von Zeit zu Zeit meinen Backenbart stutzt, entgeht das nicht und so schwatzt er munter über den Sand an seinem Urlaubsort und die schöne Aussicht vom Hotelbalkon und die Vorzüge einer privaten Altersvorsorge. Während er spricht, gestikuliert er mit dem Rasiermesser. Aus Angst um mein Ohr fange ich an zu sprechen. „In meinem Schädel rennen zahllose Rädchen…

Read More

Widerstand ist Wonne

By

Erst neulich oder vor fünf Jahren sah ich einen Mann, der mit seinem Esel rang. Er zog und riss an des Esels Mähne, den Ohren – das Tier bewegte sich keinen Zentimeter. Mit den Hufen im Boden verwurzelt stand es als lebendige Trutzburg gegen gesellschaftliche Nützlichkeit, und schaffte es, dabei noch so nonchalant und unbeteiligt in der Gegend umherzublicken, dass ich nicht anders konnte, als vor Bewunderung mit der Zunge zu schnalzen. Darauf reagierte der Esel unmittelbar und trottete in meine Richtung. Sein Besitzer funkelte mich böse an, ich zuckte die Schultern. Später bezog ich mit dem Tier eine Doppelhaushälfte…

Read More

Der Nusskopf

By

Ein Leben lang im Grünen. Das will auch niemand. Aber einen grünen Bereich, das wollen alle. Mit ihren kleinen Kindern in Schalensitzen auf den Rücksitzbänken rauschen sie vorbei. Ins Grüne, ins Grüne, raus aus der Unbarmherzigkeit, Schwipp-Schwapp, abgesoffen im Mittelmaß, im Mittelmeer, im Mittelklassewagen. Eine Fläche von 97 Fussballfeldern wird jeden Tag betoniert, damit die Planierraupen zu Fressen kriegen und im Jahr danach als speiende, spuckende Tupolews über den Frühlingshimmel donnern können. Meinethalben sollen sie alles zerschießen, die Zierhecken, die Maikätzchen, die gotischen Kirchen und den traurigen Mob, dem Tränen über das teigige Gesicht rinnen. Auf Asphalt kann keiner mehr…

Read More

Die Lösung ist niemals diagonal

By

Einer von uns zweien drohte den Verstand zu verlieren; ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube, du warst es nicht. Und auch nicht Käthe, die nimmermüde Arbeiterin im Weinberg des Herrn. ‚Welcher Herr?‘, fragst du. Na, Herr Malaga aus Hausnummer 53. Ich traf ihn neulich, als er seinen Zaun tünchte. Er sagte höflich ‚Guten Morgen‘ und ich erwiderte den Gruß. „Wo ist denn die Käthe?“, fragte ich und er wies mit dem Mittelfinger auf ein verhutzeltes Weib, das hinter mir stand und mit Eifer die Weinbeeren zählte. „Grüß dich, Käthe“, rief ich über die Schulter, doch sie gab vor,…

Read More

Abschied vom Abendland

By

„Passiert es Ihnen häufig, dass Sie etwas von Bedetung sagen wollen, aber alles, was Ihnen in den Sinn kommt, klingt wie die Rede eines Knabenschullehrers aus einem Unterhaltungsfilm der fünfziger Jahre?“ Die Personalchefin tippte mit der Rückseite ihres Kugelschreibers einige Male auf die Schreibtischunterlage aus buntem Plastik. Hasdrubal Pelzfuß strich mit der Fingerspitze sein Ohrläppchen entlang. Das Bewerbungsgespräch zog sich unangenehm in die Länge und Hasdrubal konnte sich auf nichts anderes konzentrieren, als auf den Mund der Personalchefin. Einen Riesenmund hatte die, voller winzig kleiner Zähne. Sicherlich achtzig oder hundert Zähne mussten das sein. Etwas Derartiges hatte er nie zuvor…

Read More

Wiedersehen mit Bad Sodom

By

„Veronika, ich glaube, der Frühling hält Einzug.“ Samuel Duda schaut aus dem Fenster und streicht sich Brotkrümel von der Trainingsjacke aus leichtem Synthetikstoff. Nicht, dass er vorgehabt hätte, sein Lauftraining wieder aufzunehmen – seit dem letzten Wettbewerb waren Monate vergangen, seit seinem letzten Training ebenso lang – die Jacke gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit und Trost. Und Trost hatte er in den vergangenen Wochen dringend nötig gehabt, seit einem katastrophal verlaufenen Weihnachtsfest bei ihren Eltern, ist seine Beziehung zu Veronika bestenfalls als unterkühlt zu bezeichnen; Samuel Duda ist kein Optimist. Er glaubt nicht, dass es schnell besser wird. Aus…

Read More

Seht mich den Inhalt eures Schädels schänden

By

„Wir treffen uns im kleinen Kreis. Nicht mehr als zehn Personen.“ Walter Steinbeißer unterbreitet den Freunden seine Ideen für den nächsten Auftritt. „Ich werde ein paar Gedichte vortragen, vielleicht ein Lied oder zwei zum Besten geben. Kuchen und Getränke. Eine runde Sache.“ Georg, seines Zeichens Freund und Kupferstecher, ist nicht überzeugt. „Aber nicht, dass alle wieder nur so hipstermäßig abhängen und Englisch quatschen.“ Er spuckt vor Abscheu auf Steinbeißers Teppich und wischt sich wichtigtuerisch mit dem Handrücken den Mund ab. „Wenn man nicht einmal in der Hauptstadt, also der besten und wichtigsten Stadt, die Landessprache verwendet, ist der Untergang nicht…

Read More

Rede des Großen Biestes an die Vereinten Nationen

By

„Ich will, dass alles Egozentrische in oranges Neongrell getränkt erscheint. Damit ihr seht, in welchem Zustand die Welt ist. Die Augen würden euch aus dem Kopf fallen. So zahlreich, dass man auf den Gehwegen knöcheltief in Augäpfeln würde waten müssen, wollte man sich ein Laib Brot aus der Bäckerei holen. Da würde man lieber online bestellen. Das geht aber nicht, weil man augenlos blind voller Verzweiflung durch die Welt taumelt und wieder und wieder der Länge nach auf dem Augapfelteppich hinschlägt. Insgesamt also eine deutliche Verbesserung zum gegenwärtigen Zustand der Welt. Sie sehen! Mein Problem ist, dass nichts von alledem…

Read More

Keine Liebesgeschichte

By

„Um eine vernünftige Geschichte über das Nichts zu verfassen, braucht man einen unverstellten Blick auf die Dinge. Erst wenn man alles vor Augen hat, erkennt man, dass ziemlich viel Platz neben der Materie bleibt – Unendlichkeit zwischen den Atomen. Zwar wird der eigene Schritt durch diese Erkenntnis nicht unbedingt sicherer und es häufen sich Vorkommnisse wie Gegen-Türen-und-Wände-Laufen, doch die Begegnung mit den Mitmenschen wird ungeahnt erfüllend. Großes Ehrenwort.“ Die Gräfin Karaszek nickt und saugt jedes Wort begierig auf. Sie ist eine Dame in ihren mittleren Jahren, prall gefüllt mit Temperament, niemals ein Gefühl der Alltäglichkeit im Miteinander aufkommen lassend. „Kein…

Read More

Im falschen Licht

By

Wer die Bahngleise entlang geht, vorbei am Krötenteich und den Birken, gelangt bei Regenwetter an einen Parkplatz. Der gehört zu einem Billigmöbelhaus. Darin wohne ich, zusammen mit dem Hundekönig Attila. Während der Geschäftszeiten treiben wir uns zwischen den Lagerregalen herum oder stehlen Hackfleischklöße von Tellern im Schnellrestaurant. Abends lümmeln wir auf den Sitzgarnituren und starren glotzäugig auf die Fernsehgerätattrappen. Bei klarem Himmel ist alles anders. Den Parkplatz kann man nicht finden. Stattdessen ein Wäldchen aus Laubbäumen. Sonnenscherbenmuster auf dem Waldboden, wie Fetzen gestreifter Jacken. Die Füße schwingen im Moos, als ginge man auf Taschenfederkern. Wir haben kein Dach über dem…

Read More