Auf den Punkt gebracht

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Und aus dem Dreck unter meinen Nägeln forme ich Figürchen – gestalte hier ein bisschen, modelliere dort, verwandle Horst Wessel in Rosa Luxemburg in Robin Hood in Rotkäppchen. Ich lasse sie auf dem Karussell fahren, das ich eigens für sie aus halben Strohhalmen und einer leeren Streichholzschachtel gebastelt habe. „Bitte alle einsteigen!“, rufe ich beherzt. „Zu-rückbleiben bitte! Vorsicht bei der Zugausfahrt!“ Die nächsten Minuten stehen im Zeichen der Zentrifugalkraft, die vier Figuren kreischen und klatschen vergnügt in die Hände. Doch auch die schnellste Fahrt geht mal zu Ende. Horst Wessel streicht sich das Haar aus der Stirn und zieht vor…

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Unterwegs #437 – Machtdemonstrationen einer neo-territorialen Zeit

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Einfach tun, als wenn es immer so weitergehen würde, immer so weitergehen könnte. Etwas über Lachen, Pfützen aus Urin und Kinderlachen, herzlich schrill im Ohr, im Tunnel, wo es hallt und schallt. Der Rest schreibt sich von selbst: Ein Hund schnüffelt an der Pfütze, wendet sich angewidert ab – wohl weil es Menschenurin ist – erkennt den Geruch im Schoß eines Geschäftsmannes, beschnüffelt und bespringt ihn, Kinder schüttelt ein Lachen, Kinder kreischen, der Mann ist tief beschämt. Der Hundebesitzer bemerkt es spät und ruft das Tier halbherzig zurück. Die Kinder heben spielerisch ihr Bein und geben vor, ihr Revier zu…

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Der Priester

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Der Priester muss weg, der Priester soll gehen. Der Priester trägt heute ein Hemd, auf dem das Alphabet gestickt ist. Alle Wörter dieser Welt kann er aus den Buchstaben formen: Artenvielfalt, Beschlusskraft, Dissonanz, Wolgaschifffahrt, um nur ein paar zu nennen. Doch der Priester hat den Bogen überspannt, findet die Dorfgemeinschaft. An einem Abend im Sommer beschlossen die Ältesten, dass das Fass nun voll, übervoll und die Zeit gekommen sei, dem Priester ein für allemal und unmissverständlich klar zu machen, dass nun Schluss sei mit Worten und immer nur Worten. Das Dorf wollte den Priester hängen sehen oder brennen oder in…

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Eingeschränkte Zukunftsaussicht

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Und weil ich meine Suppe nicht essen wollte, wurde ich an den Stuhl gefesselt, meine rechte Hand an den Tisch genagelt – Vater war handwerklich begabt und mit Werkzeugen gut bestückt – in die linke gab man mir einen eigenen Löffel. „Wir haben Zeit“, sagten die Eltern immer. Mutter verließ kurz darauf die Familie, in der Hoffnung ein neues und besseres Leben führen zu können – Vater ist auch schon Jahre tot. Der einzige, der wirklich Zeit hatte, sich einer Aufgabe, lohnend wie diese, zu widmen, war ich. So sitze ich noch heute am Tisch, betrachte traurig meine Suppe und…

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Das Thema des Tages

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Mal hält die Hand den Stift Mal flieht der Stift der Hand Mal fliegt der Geist ganz frei Mal hat er sich verrannt. (Ennio Del Beta) Um vor einem ernsten Thema nicht Reißaus zu nehmen, möchte ich anmerken, dass jedwede Einmischung einer dritten Person nicht nur unerwünscht, sondern hochgradig kontraproduktiv wäre und somit zu unterlassen ist. Fragen Sie mich stattdessen zum Thema des Tages, trauen Sie sich! Täten Sie es, Sie würden mich sprachlos finden. Es fällt mir schwer, mir das Morgen als ein Gestern, ja, als ein Heute vorzustellen. Meist rufe ich wie eine neuzeitliche Kassandra den entsetzten Spott…

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Menschliches, allzu Menschliches

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Betrachtet man vergangene Jahre mit ausreichendem Abstand, wirken sie harmlos, geradezu heiter. Sicher, über manches in der Vergangenheit mag man sich wundern, womöglich ärgern; vieles betrachtet man mit dem Unwillen eines Mannes, der morgens nicht aus dem Bett will, aber sich durch Aufgaben, wie beispielsweise dem Dienst an der Allgemeinheit, dazu gezwungen sieht. Eines schönen Tages, ich war noch nicht ganz dem Grundschulalter entwachsen, bekam ich Besuch von einem Käuzchen. Nicht, dass ich damals hätte mit Bestimmtheit sagen können, dass es sich bei meinem gefiederten Besucher um ein Käuzchen handelte; Vogelkunde oder Typologisierung der Umwelt waren mir fremd. Sagen wir,…

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Die Visite

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„Hier müssen Sie jetzt aufpassen – hier stößt man sich ganz leicht den Kopf.“ Veit Lochner, ein Mann aus der Abteilung Öffentlichkeitspflege und Kontaktarbeit, bückt sich und betritt das Kellergewölbe vor Rudolf-David Krenz, neugekürtem Vorstandsmitglied des Kontrollausschusses. „Hier ist noch vieles aus dem Stegreif gefertigt und noch sind nicht all unsere Pläne umgesetzt.“ Die beiden Männer steigen tiefer und tiefer die Treppe hinab; Moder lässt die Stufen schmatzen. „Hier ist es glitschig, ich bitte Sie, passen Sie auf! Sie wären nicht der Erste, der hier ausrutscht. Nicht einmal der Erste heute.“ Das Licht aus Veit Lochners fingerdicker Stablampe wird von…

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Goodbye, Dario Fo

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Und so fand sich Dario Fo eines Morgens nach dem Aufwachen über und über von rosa Punkten in unterschiedlichen Größen bedeckt. „Unschön“, sagte Dario Fo mit belegter Stimme, bevor ihn der morgendliche Hustenanfall durchschüttelte. Die Punkte hoben sich deutlich von seiner blassen Haut ab. Vielleicht ein verspätete Kinderkrankheit, dachte er. Vielleicht, und bei diesem Gedanken stockte ihm der Atem, vielleicht sogar die Pest. Zwar wusste Dario Fo nicht mit letzter Sicherheit, ob rosa Punkte wirklich Anzeichen der Pest sind, aber er glaubte sich erinnern zu können, irgendwo irgendwann etwas Dementsprechendes gelesen zu haben. „Also die Pest“, murmelte er nach der…

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Alltägliche Abstraktion der Ichsucht

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Ich fange frisch an, ich gehe voran, weil alle hinter mir zu langsam sind. Wer ruft in den Wald? Das himmlische Kind. Es schallt. Wer ruft, sobald ein Licht sich seinen Weg durch Laubgewimmel bricht: „Ich bin der Herr, ich bin der Weg und Wille. Mein Wille geschehe.“ Wenn ich den Sachverhalt so drehe, kommt er mir ein wenig komisch vor. Und alle Kinder fragen: „Wer mag der Herr wohl sein?“ Mein Wille geschehe – geschehe, was wolle, aus vollen Wolken schöpfen, öfter mal ein Zicklein köpfen, öfter mal nach links und nach dem Rechten sehen (noch immer soll nur…

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Tränende Herzen

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Frau 1: Läuft. Momentan. Läuft richtig gut. Frau 2: Was ist mit deinem Gesicht? (betroffen) Was ist denn passiert? Frau 1: Ach, das ist nichts. Ein kleines Unglück nur, ein Fehltritt. Weiter nichts. Möchtest du eine Schokolinse? Frau 2: Ich glaube, das musst du behandeln lassen. Frau 1: Habe ich. Habe ich doch schon. Frau 2: Und? Was sagt der Arzt? Frau 1: Das war kein Arzt, das war die Blumenhändlerin. Die hat mir Tränende Herzen gegeben und die sollte ich mir am Vormittag auf die Wunde tun. Da habe ich mich in den Park gelegt und mich gesund geruht….

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