Seltsame Attraktoren

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Vielleicht müssen wir nur noch eine Weile an den Stäben rütteln. Irgendwann wird schon jemand aufmerksam werden. Jemand, der die Verantwortung trägt. Sie wird ja zweifellos getragen, wenn auch heimlich, wenn nicht sogar im Geheimen. Das ist verständlich. Wer würde das schon offen zugeben? Man stolziert nicht auf und ab und ruft: „Ich bin zuständig!“ Nur Schwachköpfe und Knallprotze tun das. Die wahren Strippenzieher handeln im Verborgenen. Das kann man überall nachlesen. Und wer nicht lesen kann, lässt es sich vorlesen. Und wer niemanden kennt, der sieht sich einen Film an. Und wer keine Augen hat, verlässt sich auf sein…

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Stoßzeit

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Bekanntermaßen ist der Planet überfüllt, wie ein Bahnwaggon zur Stoßzeit. Stoßzeit. Kein schönes Wort. Aber so sagt man eben. Früher hätte es geheißen, man solle etwas zusammenrücken, wenn es eng wird, aber heute darf man das nicht mehr. Niemand weiß mehr genau, wie man sich richtig verhält und was erlaubt ist. Außer meinem Nachbarn, dem guten Bormann. Er ist der moralische Kompass der Hausgemeinschaft, und wir alle sonnen uns im Leuchten seines Beispiels. Zudem ist er der Vetter des bösen Bormanns, doch von dem will ich lieber schweigen, sonst vergesse ich meine gute Kinderstube. Neulich begegnete ich ihm in der…

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Auf dem Abstellgleis

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Anstatt zum hundertsten Mal die Geschichte zu erzählen, wie ich ins sonnige Spanien gereist bin und dort eine Ausbildung zum Torero machte, werde ich heute von einer Zugfahrt ohne besondere Vorkommnisse berichten. Ich fand mich im Morgengrauen am Bahnsteig ein, denn wer wie ich über keinerlei Ersparnisse verfügt, muss unkomfortable Abfahrtszeiten in Kauf nehmen. Eine Platzreservierung leiste ich mir trotz des schmalen Budgets. Seit ich einmal 36 Stunden auf dem Gang eines Bummelzugs nach Skopje mit einem Regiment Soldaten und ihren Socken verbringen musste, mag ich auf einen Sitzplatz nicht mehr verzichten. Der Zug war alt und schäbig, auf den…

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Kein Ende abzusehen

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An meinem ersten Schultag begleiteten mich meine drei Brüder, denn meine Eltern kamen so früh am Morgen nicht aus den Federn. Als wir um die Ecke bogen und das Gebäude in Sicht kam, nickten sie sich wissend zu und ihr grimmiges Schweigen dröhnte mir in den Ohren. Meine Brüder heißen Palisander, Palisade und Palindrom. Ich verwechsle sie immerzu, weil ihre Gesichter hinter bunten Masken verborgen sind, und sie foppen mich obendrein, indem sie tauschen. Aber letztendlich ist das nicht der wahre Grund. Ich verwechsle fast alles: Frühstück und Abendbrot, Sommer und Winter, Hase und Pfeffer, Gott und die Welt, Theremin…

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Reines Glück

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Graf von Karytz war unzufrieden. Er saß am Steg seines Anwesens, ließ die Beine baumeln und langweilte sich beim Anblick der Sonne, die im Ozean versank. Weder das prächtige Farbenspiel noch das Zischen der Verdampfungen am Horizont vermochten seine Begeisterung zu wecken, denn er hatte das Schauspiel schon hundertfach verfolgt. Auch der Branntwein schmeckte ihm nicht und die in Speck gewickelten Datteln verursachten ihm Sodbrennen, wenn er sie nur ansah. Einmal, dachte er, wenn man den Sonnenuntergang nur einmal sehen würde, dann könnte man sich daran freuen. Womöglich sogar zum ersten und einzigen und letzten Mal! Ein Bote kam zum…

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Der Knochenturm

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Ich dachte, das seien Martinshörner gewesen, dabei war es das Heulen der Höllenhunde. Ich steckte kurz die Nase unter meiner Decke hervor und schnupperte nach Brandgeruch, doch nur vertrauter Schlafzimmermuff stieg mir in die Nase, also schlief ich weiter. Die Morgensonne beschien die leere Straße, als ich auf meine Veranda trat, und in der Ferne jammerten die Krokusse, weil keiner kam, um sie zu betrachten. Ich wusste gleich, dass niemand mehr da war, denn ein unendliches Bedauern lag in der Luft. Neugierig spazierte ich durch die Stadt, aus der nicht nur alles Leben, sondern auch die Türen verschwunden waren. In…

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Kein Keller Einsamkeit

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Wenn man die Straße entlang geht, bis die Abstände zwischen den Laternen größer werden und dann noch ein Stückchen weiter, findet man linker Hand ein Gebäude mit rußgeschwärztem Mauerwerk. Die Fensterscheiben sind stumpf und die Bewohner möchte man nicht zu sich nach Hause einladen. Wer sich davon nicht abschrecken lässt und auch noch den Mut findet, die vom Moos glitschige Treppe in den Keller hinabzusteigen, durch den nach alter Kohlsuppe riechenden Gang zu gehen und eine unappetitliche Türklinke herunter zu drücken, der gelangt in die Küche der Witwe Finsterthaler. Über die Witwe erzählt man sich so einiges. Manche sagen, sie…

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Das Birnenmännchen

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Nachts in die Sterne starren, bis einem die Augäpfel gefrieren. So weint man keine Träne. Was will man mehr? Der Wind soll einem das Haar zausen, aber mit Bedacht. Mit Rosen bedacht sogar. Ein mit Näglein bestecktes Kind begehrt zu wissen, warum es verlassen wurde. Der Schlaf sitzt in einer Ecke und schmollt. Auf seiner Schnute kann man schaukeln bis zur Erschöpfung, das wird ihn nicht milde stimmen. Hätte man einen eigenen Wirt, könnte man sich Humpen für Humpen in die Kehle gießen, bis man einen kugelrund schwappenden Bauch bekäme. Auf dem könnte man trommeln und damit Geister aus den…

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Der Krieg und der Kohl

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Schnurgerade klebt die Straße auf der Erde und schneidet das Land in zwei Hälften. Links und rechts liegen bis zum Horizont Kohlköpfe in ordentlichen Bahnen und neigen die Häupter beschämt zur Seite. Das muss die weite Welt sein, von der man überall liest. Gebeine und Tod und Gräben und geschundenes Land haben die Menschen in ein Tohuwabohu gestürzt. Daraus wuchs der Wunsch, dem Grauen der Friedhöfe die harmlose Langweiligkeit nicht enden wollender Reihen von Kulturpflanzen entgegenzusetzen. Für jeden Gefallenen ein Kreuzblütler. Es drängt mich, die Kohlköpfe durcheinander zu wirbeln oder ein paar Palmen dazwischen zu Pflanzen, denn wo Palmen sind,…

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Lose Enden

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Der Gedanke, die Nachwelt mit losen Enden, ungeordneten Hinterlassenschaften und Halbgarem zu belasten, flößte Fritjof Pelzfuß zeitlebens großes Unbehagen ein. Jede noch so kleine Aufgabe erledigte er augenblicklich, und jede frisch geschlüpfte Idee wurde in die Tat umgesetzt, sobald ihr mehr oder weniger prächtiges Gefieder getrocknet war. Seine Post beantwortete er unverzüglich, sogar die vom Finanzamt. Für Müßiggang hatte Fritjof nichts übrig, und bereits in jungen Jahren plagten ihn Magengeschwüre und Reizdarm. Sein Hausarzt sagte ihm ein frühes Ende voraus und verordnete ihm Entspannung. Also erstellte Fritjof Pelzfuß eine Liste mit beschaulichen Tätigkeiten und machte sich sogleich daran. Montags beobachtete…

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