Waldos Auferstehung

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Wenn die Christenheit ungeduldig mit den Hufen scharrt und auf das große Fest der Auferstehung wartet, erinnere ich mich an meinen Vetter Waldo. Obwohl er einige Jahre älter war als ich, war mir seine frühe Kindheit bekannt, denn bei Familienfeiern war es üblich, stundenlang Super-8-Filme über ihn anzusehen, in denen jedes noch so kleine Malheur dokumentiert war. Es gab den Film, in dem Waldo von der Wickelkommode fällt, Waldo, wie er auf seinem Töfpchen sitzt und mit all seiner kindlichen Kraft versucht, eine Kotwurst hervorzupressen und natürlich Waldo, wie er vor Schmerzen brüllt, weil er seine speckigen Finger in einen…

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Abgeschmacktes

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Man muss etwas dazu sagen und sei es noch so abgeschmackt. Es will niemand einen Krieg und dennoch gibt es ihn. Er ist so alt wie die Menschheit. Also fast so alt wie das Rad. Vielleicht sollte man dahin zurückgehen, wo es noch keine Räder gibt. Aber wie kommt man da hin? Zu Fuß oder auf Kufen, sonst könnte man sich den Weg gleich sparen. Das sind gemütliche Gedanken, die man sich machen kann, wenn einem nichts weiter als Birkenpollen um die Nase fliegt. Andere Leute packen ihre Habseligkeiten zusammen und sehen zu, dass sie fortkommen, zu Fuß, auf Rädern,…

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Die Miete

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Nicht einmal die Jahreszeiten sind noch echt. Sieht man aus dem Fenster, wähnt man sich im Frühling, doch draußen pfeift ein eisiger Wind um die Häuserecken, dass einem die Ohren taub werden. Das wiederum macht nichts aus, denn zu hören gibt es ohnehin nichts von Bedeutung. Und es stimmt auch nicht. Zu meinem Leidwesen höre ich allzu gut: Das Brummen des Wagens meiner Hauswirtin zum Beispiel. Ein dunkelgraues Ungetüm, groß wie ein Panzer, das bedrohlich unsere Hofeinfahrt blockiert. Zum Zeichen ihrer Anteilnahme am Elend der Welt hat sie blau-gelbe Plastikfähnchen an beiden Seiten angebracht; ein Anblick den man sonst nur…

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Kopfüber

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Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, die Welt sei in Wahrheit der zu groß geratene Kopf eines Kindes, das auf krummen Beinchen von einem Elend zum nächsten stolpert. Wo, möchte man fragen, sind die Eltern abgeblieben und warum scheren sie sich nicht darum, ob der klägliche Knirps von Kopfläusen und schmerzender Blödheit geplagt ist? Aber man weiß es ja besser, jeder weiß alles besser, jahrein, jahraus dröhnt einem schäfisch dahergeblöktes Besserwissen um den verlausten Schädel, während man vergeblich versucht, es sich in der Fontanelle zwischen flaumigem Babyhaar und Milchschorf gemütlich zu machen. Aber das gelingt einem nie,…

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Erzähl mir nix!

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„Heute“, sagte der glutäugige Jüngling zu Regina Pelzfuß, „will ich dir vom Steinadler erzählen.“ Er fasste ihre Hand und drückte sie, exakt an der Grenze zwischen sanft und fest, als wisse er genau, wo die sei. Regina Pelzfuß rutschte unbehaglich auf ihrem etwas in Jahre gekommenen Apfelhintern hin und her. „Vom Steinadler? Besser nicht. Erzähl‘ lieber was anderes! Vom Elefanten oder von einer Bahnfahrt.“ Sie sah zu der Klappe hinauf, die zum Dachboden führte, wo sie vor langer Zeit den Adler in den Schlaf gesungen hatte. Bestimmt würde er aufwachen, wenn von ihm die Rede war. Doch der junge Mann…

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Speed-Dating

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„Für jeden kommt der Tag, an dem man mehr Tote als Lebende kennt.“ „Was für ein Unsinn. Wenn man in jungen Jahren stirbt, oder gar als Baby, dann kennt man sicherlich mehr lebende Menschen – oder als Baby womöglich gar keine, außer der eigenen Mutter und der Hebamme.“ „Sie haben mich nicht ausreden lassen. Eine unschöne gesellschaftliche Entwicklung. Man fällt den Leuten ins Wort, sobald man Platz für Widerspruch entdeckt. Äußerst unschön.“ „Also gut. Wie geht es denn weiter? Das würde mich jetzt interessieren, was da noch kommen soll, damit etwas anderes als theatralischer Pomp entsteht.“ „Ach, lassen Sie es…

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Der Zöllner

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Matthias Pelzfuß steht auf dem Balkon und blinzelt in die Morgensonne. Es ist bei weitem nicht so warm, wie es vom Bett aus ausgesehen hat. Die Kälte breitet sich auf seinen Fußsohlen aus. Heute ist sein großer Tag, sein erster Tag als Zollhauptwachtmeister. Viele Jahre seines Lebens hat er als gewöhnlicher Zollwachtmeister verbracht, stets pünktlich, niemals krank. Damit sich das nicht ändert, geht Matthias Pelzfuß zurück in seine Wohnung und zieht sich warme Socken an. Veränderungen sind ihm nicht geheuer. Der Sprung vom Wachtmeister zum Hauptwachtmeister scheint ihm für einen Tag genug, da braucht er nicht auch noch auf kalten…

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Jahreswechsel

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Also, ich werde mir vorerst kein neues Jahr zulegen. Das alte ist noch gut in Schuss und es gibt keinen Grund, es schon zu entsorgen. Im Gegenteil, nachdem ich mir bis in den Mai hinein Blasen darin gelaufen habe, ist es jetzt gerade richtig bequem und ich finde mich endlich darin zurecht. Diese kapitalistische Propaganda, jedermann brauche ständig ein neues Jahr, will ich nicht länger glauben. Wenn man sparsam und pfleglich damit umgeht, hält so ein Jahr ewig. Na ja, ewig vielleicht nicht, aber, sagen wir, bis Juni auf alle Fälle. Ich werde morgen keck mit meinem alten Jahr herumstolzieren,…

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Eichmann zur Miete

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Als mein letzter Untermieter an der Franzosenkrankheit verstarb, verbrachte ich die vorgeschriebene Zeit in Trauer. In sieben Minuten weinte ich sieben Tränen und sprach sieben freundliche Worte in seinem Andenken. Anschließend blieben mir noch dreiundzwanzig Minuten, um die Bude wieder in Schuss zu bekommen, denn das Amt würde mir gleich den nächsten schicken. Gerne wäre ich eine Weile alleine geblieben, aber Vorschriften sind eben Vorschriften, und ein wenig plagte mich auch die Neugier, wer der kommende Gast sein würde. Mein Missfallen hätte nicht größer sein können, als kurz darauf Adolf Eichmann vor meiner Tür stand. Er trug einen zu eng…

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Der Nachruf

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Über die Toten soll man nur Gutes sagen. Das ist allgemein anerkannt, auch wenn es Unfug ist. Als würde jeder Makel mit dem Tod abgewaschen und zurück bliebe nichts als Tugend und gutes Benehmen. Der Nachruf auf Helmut Pelzfuß sollte frei von jeder Schönfärberei sein, denn er war ein großer Mann mit wildem Blick und zausem Bart gewesen, der so etwas nicht nötig hatte. Es hatte kein Thema gegeben, über das er nicht aus dem Stegreif eine halbe Stunde hätte referieren können, und er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, genau das zu tun. Zudem war er ein begnadeter Baumeister; landauf landab…

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