Kurzgeschichten

Auf dem Jahrmarkt der Einsamkeiten

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GEWINNE * GEWINNE * GEWINNE Ich kann Ihnen gar nicht adäquat vermitteln, wie glücklich ich bin, Sie hier und heute begrüßen zu können. Hier, an diesem historisch bedeutenden Ort – heute, zu dieser festlichen Stunde. Waren Sie bereits bei uns in der Praxis oder begrüßen wir Sie zum ersten Mal? Das Hier und Heute, das Hier und Jetzt, das Hic und auch das Nunc. Geschwister wie Prinzipien wie Dur und Moll, wie Ex und Hopp. Komme, wer wolle, wer hat noch nicht, wer will noch mal, komm’se rein, komm’se näher, komm’se ran! GEWINNE * GEWINNE * Gewinnen Sie, wenn andere…

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Eine andere Geschichte

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Hinter der Theke in der Fleischerei steht eine Dame mit prächtig geschminkten Lippen. Ihre meerblauen Augen blicken sanft über die Berge aus Rippchen und Würsten. Wenn sie das schwere Messer anhebt, um Schnitzel aufzuschneiden, spannen sich die Muskeln unter der Haut ihres Unterarms, ähnlich wie sich die Muskeln der Sau gespannt haben müssen, als der Viehtransporter die letzte Kurve vor dem Schlachthof nahm. Mit einer lässigen Handbewegung lässt sie Schinkenscheiben von der Fleischgabel auf die Waage gleiten und die dünnen goldenen Armreifen singen dazu, wie Kaffeebohnen, die man in ein großes Glas schüttet. An sich esse ich nicht gerne Fleisch….

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Späte Polemik gegen Nobelpreisträger G. „Ich habe das immer als Makel empfunden“ G.

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Gras gefällig? Grass, die kaschubische Nachtigall, lehnt, auf die Pfeife im eigenen Mund weisend, das Angebot ab. Und vergisst darüber wieder einmal, einstige Zugehörigkeiten und die geleisteten Schwüre zu erwähnen. „Wer will mir das Wasser, den Kelch, den bis zum Rand mit Wasser gefüllten Kelch reichen?“ Scheint seine Haltung auszudrücken. „Bleibt mir bloß weg mit eurem Zeug, ich trällere nicht, ich trapse.“ Aber die Ernte, die Trommel, aber die Wörter! Aber die Worte und ihre Bedeutung, aber die Trommel. Mit zuckenden Waden. Und Zucker, wie Baisers. Mit Aalen und Köpfen – das ist Gold, literarisches Gold, dynamitpreisverdächtig. Wirklich keinen Zug…

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Das Wechseltier

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In letzter Zeit fühle ich mich seltsam. Die ersten paar Jahre dachte ich, das ginge von selbst vorüber. Es geht ja alles ständig von selbst vorüber, wie mein Vetter Sebastian nicht müde wird zu erwähnen. Da ich den Beginn des Jahres gerne nutze, um Dinge zu erledigen, die sich im Laufe des vergangenen zu einem unförmigen Haufen aufgetürmt haben, suchte ich meinen Hausarzt auf. Hin und wieder kann es nicht schaden, etwas anzupacken, dachte ich mir. Der Arzt brummte anerkennend vor sich hin, während er mich mit seinem Stethoskop abhörte und mit einem Lämpchen in meinen Hals und meine Ohren…

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Der Nachruf

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Kaum-Ich: Hast du den Nachruf schon geschrieben? Nicht-Ich: Der liegt seit gut fünf Jahren druckfertig in meiner Schublade und wartet nur auf seine Veröffentlichung. Kaum-Ich: Dann kann es ja losgehen. Beziehungsweise enden. Den Anfang vom Ende haben wir bereits hinter uns gelassen. Und durchqueren gerade den Schluss der Mitte vom Ende. Nicht-Ich: Es scheint fast, als wolle der HErr ihn nicht bei sich haben. Kaum-Ich: Ich glaube nicht, dass der HErr nach traditioneller Lesart viel mit ihm zu tun haben wird. Nicht-Ich: Dann ist es vielleicht der Herr der höllischen Wehklagen, der es durchaus noch abwarten kann, ihn an seiner…

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Höllischer Abend

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Obwohl ich nach dem Duschen meine Füße mit glitzerndem Kunstschneepulver eingesprüht habe, bin ich nicht in festlicher Stimmung. Bräsig breiten sich die Feiertage der Christenheit über Wochen und Monate im Jahreskreis aus, so dass einem kaum Platz zum Atmen bleibt, geschweigedenn für wilden Tanz und Orgien. „Machen Sie doch! Wir leben schließlich in einer freien Gesellschaft“, ruft mir meine Nachbarin zu. Sie trägt trotz der sommerlichen Temperaturen eine Weihnachtsmütze und der Schweiß läuft über ihr Gesicht, als sie einem zu grauem Klump zusammengeschmolzenen Schneemann die Rübennase zurechtrückt. Sie beugt sich über den Topf mit kahlem Zierklee und betrachtet neugierig meine…

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Der Stift

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Es gibt ein Problem mit diesem Stift. Er schreibt, was er will. Das war zwar das Verkaufsargument, als ich ihn kaufte – er war nicht gerade billig – und anschließend einigermaßen stolz nach Hause trug, aber ich hatte dem Verkäufer im Grunde misstraut, denn zu oft war ich in ähnlichen Situationen bereits enttäuscht worden. Ich habe in meiner Wohnung mehrere Kisten mit Dingen, die nicht das tun, was ich mir zum Zeitpunkt des Erwerbs von ihnen erhofft hatte. Aber dieser Stift funktioniert wirklich phänomenal. Und darin liegt das Problem: Wie kann ich Texte, die er quasi ohne mein Zutun verfasst,…

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Das ist ja ein Delirium

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Es gibt diese Tage, da wacht man morgens auf und kann die eigenen Hände nicht erreichen. Sie schaukeln in weiter Ferne an dünnen Armen, während man selbst zuhause sitzt und sich den Schlaf nicht aus den Augen reiben kann. „Kommt zurück!“, will man ihnen zurufen, aber durch den zugeschwollenen Hals entweicht nur eine sanfte Brise und die Hände schaukeln noch ein bisschen mehr. Kleine Stücke Erinnerung wagen sich hervor aus dem zähen Gehirn, wohlwissend, dass man sie nicht greifen kann. Eine aus Harzer Käse geschnitzte Deutschlehrerin mahnt mit erhobenem Zeigefinger, man dürfe Sätze nicht mit „Und dann …“ beginnen, wenigstens…

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Das ‚alte Normal‘

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Erzählt mir nichts vom ‚alten Normal‘. Ich will nichts hören über das ‚alte Normal‘. Stattdessen will ich von mir erzählen, denn ich warte schon so lange, warte, dass es endlich losgeht. „Du hast wohl den Schuss nicht gehört“, sagt man mir, doch das stimmt bekanntlich nicht, habe ich doch bereits sehr früh im Leben den Schuss gehört, ja, hören müssen, der auf mich abgefeuert worden war. Zuvor waren mir rechts drei Kinderrippen gebrochen worden – niemand weiß mehr, wie – oder ich lag mit mir selbst zugefügten Vergiftungen im Krankenhaus; meine schweren Verbrennungen – ein Unglück, wird sich bis heute…

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Fragen Sie mich bloß nichts!

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Als moderner Mensch muss man immer und jederzeit über alles Bescheid wissen. Mir lag das Modernsein schon in der Wiege. Bereits mit wenigen Monaten vermochte ich in ganzen Sätzen zu sprechen und fragte meinen Eltern Löcher in den Bauch, aus denen lebenswichtige Organe austraten. Das brachte ihnen einen frühen Tod und ich wuchs fortan im Nasewaisenhaus auf, wo ich aus Sicherheitsgründen nur sprechen durfte, wenn mich jemand etwas fragte. Da ich selbst entsetzt über die Angelegenheit war, kam mir das Schweigen entgegen, wollte ich doch keine weiteren Todesfälle herbeiführen. Traurig war ich dennoch, denn mein Berufswunsch war Quizmistress gewesen. Das…

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