Kurzgeschichten

Das neue Normal

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Ich bin nicht müde. Wirklich nicht. Ihr mögt müde sein, ständig müde sein, aber nicht ich. Ich bin nicht müde. Ihr vielleicht, aber ich nicht. Das sagte ich bereits, sagt ihr? Mag sein. Ich bin voll Kraft, voll wacher, unbändiger Kraft, da schweifen selbst dem Wachsten schon mal die Gedanken in die Ferne. Dem Wachsten unter uns. Und der mag ich ohne Mühe sein. Ohne Mühe, ohne Mühe, ohne jemals müde zu sein, ohne müde zu werden. Ich war noch nie so wach wie heute, wie gerade jetzt, nicht eben und nicht gestern. Jetzt bin ich wach und ihr seid’s…

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Die Entdeckung des Buckligen

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Die Luft ist feucht im Keller, es riecht entsprechend modrig. Der Bucklige öffnet einen Verschlag und bittet mich einzutreten. „Das ist das Allerheiligste. Nur wenige Menschen haben es je zu Gesicht bekommen und noch weniger können davon berichten.“ Eine „wissenschaftliche Sensation“ war mir angekündigt worden, ein „Durchbruch“. Nichts weniger erwarte ich jetzt und ich muss an mich halten und mich bemühen, meine Enttäuschung zu verbergen, mir meine Unzufriedenheit nicht anmerken zu lassen, als der Bucklige das Licht anknipst und ich sehe, dass sich außer einer alten mannslangen Kiste aus Holz nichts im Verschlag befindet. „Künstliche Intelligenz bei körperlicher Vollkommenheit ist…

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Die Miete

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Nicht einmal die Jahreszeiten sind noch echt. Sieht man aus dem Fenster, wähnt man sich im Frühling, doch draußen pfeift ein eisiger Wind um die Häuserecken, dass einem die Ohren taub werden. Das wiederum macht nichts aus, denn zu hören gibt es ohnehin nichts von Bedeutung. Und es stimmt auch nicht. Zu meinem Leidwesen höre ich allzu gut: Das Brummen des Wagens meiner Hauswirtin zum Beispiel. Ein dunkelgraues Ungetüm, groß wie ein Panzer, das bedrohlich unsere Hofeinfahrt blockiert. Zum Zeichen ihrer Anteilnahme am Elend der Welt hat sie blau-gelbe Plastikfähnchen an beiden Seiten angebracht; ein Anblick den man sonst nur…

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Theologie des Alltags

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„Ewiges Leben ist kein Heilsversprechen“, sagt der Mann mit dem blauen Frottee-Cape und sieht sich verstohlen um. „Ewiges Leben ist eine Drohung.“ Er flüstert, sein Zuhörer kann ihn kaum verstehen. Der Zuhörer nickt wie einer, der zwar prinzipiell zustimmt, aber trotzdem noch einige Fragen hat und dem die ganze Heimlichtuerei eigentlich zuwider ist. Der Mann mit dem Cape rückt näher, um die Stimme noch weiter zu senken. „Die östliche Sichtweise auf Leben und Sterben ist meiner Meinung nach äußerst zutreffend.“ Der Zuhörer kennt die östliche Sichtweise nicht, verkneift sich jedoch eine Nachfrage diesbezüglich. Er zieht einen Plastikrevolver aus der Tasche…

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Kopfüber

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Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, die Welt sei in Wahrheit der zu groß geratene Kopf eines Kindes, das auf krummen Beinchen von einem Elend zum nächsten stolpert. Wo, möchte man fragen, sind die Eltern abgeblieben und warum scheren sie sich nicht darum, ob der klägliche Knirps von Kopfläusen und schmerzender Blödheit geplagt ist? Aber man weiß es ja besser, jeder weiß alles besser, jahrein, jahraus dröhnt einem schäfisch dahergeblöktes Besserwissen um den verlausten Schädel, während man vergeblich versucht, es sich in der Fontanelle zwischen flaumigem Babyhaar und Milchschorf gemütlich zu machen. Aber das gelingt einem nie,…

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Vorkommnis

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„Kindereien“, sagte er, als ich ihn auf seine Probleme ansprach. „Nicht der Rede wert, wirklich.“ Ich bewunderte seine lässige Art, mit Angelegenheiten umzugehen, die einen anderen Mann sicherlich erdrückt hätten. Im Gegensatz zu beispielsweise mir ließ er sich niemals unterkriegen, er schien mit jedem Widerstand zu wachsen und konnte sich an allen Schwierigkeiten zu voller Größe aufrichten. Was er an mir fand, verstehe ich bis heute nicht. Vielleicht war es das Brüchige, das mir zweite Natur geworden war und das ihm gänzlich fehlte. Vielleicht war es mein unaufdringliches Naturell, das ihm viel Raum zur Entfaltung ließ, ich weiß es nicht….

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Erzähl mir nix!

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„Heute“, sagte der glutäugige Jüngling zu Regina Pelzfuß, „will ich dir vom Steinadler erzählen.“ Er fasste ihre Hand und drückte sie, exakt an der Grenze zwischen sanft und fest, als wisse er genau, wo die sei. Regina Pelzfuß rutschte unbehaglich auf ihrem etwas in Jahre gekommenen Apfelhintern hin und her. „Vom Steinadler? Besser nicht. Erzähl‘ lieber was anderes! Vom Elefanten oder von einer Bahnfahrt.“ Sie sah zu der Klappe hinauf, die zum Dachboden führte, wo sie vor langer Zeit den Adler in den Schlaf gesungen hatte. Bestimmt würde er aufwachen, wenn von ihm die Rede war. Doch der junge Mann…

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Hyperlink

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Die Welt lebt in meinem Schuh. Die Erde, der Graue Planet, und alle, die auf & über ihr existieren, gerade geboren werden oder im Begriff sind zu sterben, lassen meine Sohle erzittern. Vibrationen, die mein Körper missdeutet und in Worte und Gedanken verwandelt. Worte und Gedanken, Dieses und Jenes prasseln stetes Prickeln. Die Welt ist Rauch, dampft mir der Kopf, heben sich Schwaden von der Stirn und formen Wölkchen, aus denen es spitz und kalt herab trommelt. Ein Kreislauf wie Wasser und Strom, Aggregatzustände wechseln und hinterlassen Haufen aus Plasma und negativer Spannung: Oh, ihr Freunde, aufgewacht! Die Frühjahrssonne lacht…

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Speed-Dating

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„Für jeden kommt der Tag, an dem man mehr Tote als Lebende kennt.“ „Was für ein Unsinn. Wenn man in jungen Jahren stirbt, oder gar als Baby, dann kennt man sicherlich mehr lebende Menschen – oder als Baby womöglich gar keine, außer der eigenen Mutter und der Hebamme.“ „Sie haben mich nicht ausreden lassen. Eine unschöne gesellschaftliche Entwicklung. Man fällt den Leuten ins Wort, sobald man Platz für Widerspruch entdeckt. Äußerst unschön.“ „Also gut. Wie geht es denn weiter? Das würde mich jetzt interessieren, was da noch kommen soll, damit etwas anderes als theatralischer Pomp entsteht.“ „Ach, lassen Sie es…

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Superesse in Nivis

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Hans Löser kämpft mit den Schneeflocken. Sie umschwirren ihn, schwärmen aus und sammeln sich wieder in Böen, greifen an und peitschen sein Gesicht. Was hatte sie zum Abschied gesagt? Er wisse nichts vom Leben, von der Liebe, vom Beieinander. Hans Löser seufzt und schlägt mit der Faust ins Glitzern um seinen Kopf. Er weiß sehr wohl von der Liebe, weiß, wie sie glüht, weiß, wenn sie lodert. Wie es ist, wenn der Sturm die Flammen links und rechts ohrfeigt. Hans Löser duckt sich und windet seinen Körper. Da packt ihn ein Windstoß im Genick, drückt ihn zu Boden, ins frostig…

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