Kurzgeschichten

Tagebucheintrag 3.September

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Mein Vater, so erzählte es Mutter gerne, war ein rollender Stein. Wo immer er seinen Hut ablegte, fühlte er sich zu Hause. Ich kann mich nur noch bruchstückhaft an ihn erinnern, an einen untersetzten Mann, dessen genetisches Erbe ich zu meinem Leidwesen in mir trage: kurze Beine, schlechte Augen und einen bestenfalls als wackelig zu bezeichnenden Urogenitaltrakt. Wenn er dann und wann seinen Hut in unser bescheidenes Heim legte, war meine Mutter eine verwandelte Frau, im Alltag eher weinerlich reserviert, blühte sie während seiner Besuche auf und wurde von einer mir unbekannten Heiterkeit besessen, die manische Züge annehmen konnte. Wir…

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Das Tier in dir

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Melissa Pelzfuß wusste nie genau, ob ihr die Menschen mit oder ohne Tierliebe unheimlicher waren. Saß sie sonntags auf ihrer Lieblingsbank im Park, betete sie manchmal leise zu einer nur ihr bekannten Gottheit, die sich nähernde Dame möge nicht zu ihrem Pudel sprechen, an der Leine ruckeln oder – das war noch furchtbarer – mit dem entgegenkommenden Hundebesitzer bekannt sein. Eine Steigerung waren die mit den Käftigtieren, die Petitionen gegen Halsgratscheiben und Schaschlik unterschrieben. Am tiefsten Grund ihres Grauens tummelten sich Menschen, die exotische Tiere, wie große Spinnen, Warane oder Nacktmulle, hielten. Andererseits gruselte es ihr vor denen, die bei jeder…

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Eigentum

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‚Eigentum ist Diebstahl‘ steht auf dem Schild, das, auf der letzten Demonstration fallengelassen und liegengeblieben, mir während meines wöchentlichen Nachmittagsspaziergangs erst auf den zweiten Blick ins Auge fällt. Bis vor kurzem hätte ich es wohl völlig übersehen; es wäre mich nichts angegangen und ich hätte inhaltlich bestenfalls semi-interessiert zugestimmt, aber seit neustem bin ich Besitzer einer 4200 ha großen Organplantage. Ich züchte Menschen. Das klingt aufregender als es ist, denn ich muss nicht viel tun. Unterkunft stellen, mich um Nahrung und eine medizinische Grundversorgung kümmern, sind ja keine Tage füllenden Tätigkeiten. Manchmal muss ich abends an die Fenster der kleinen…

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Der Setzling

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Seit Jahren versuche ich mich im Züchten von Dattelpalmen, doch bisher blieb meine Mühe ohne Lohn. Mein Bruder, um dessen grünen Daumen sich in der Familie phantastische Geschichten ranken, meint, das Klima sei Schuld. Er rät mir zu einem Gewächshaus, aber dafür mangelt es mir an Demut. Ein Feigenbaum, behauptet er, sei einfacher zu ziehen. Da ich jedoch tagsüber gern ein Nickerchen mache, ist mir das zu gefährlich. Am Ende erwache ich mit Eselsohren in seinem Schatten, und dann wäre es sicherlich vorbei mit der Liebe, egal wie oft der Herzensmann beteuern mag, es käme ihm auf Äußerlichkeiten nicht an….

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Weit hinter dem Scheideweg

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„Immer mit der Ruhe! Einer nach dem anderen: die Frau und die Kinder zuerst!“ Kapitän Wahab geht im Kopf die notwendigen Maßnahmen zur Evakuierung eines Ausflugsdampfers durch. Jetzt, da sich seine Seeräuberkarriere ihrem Ende nähert, ärgert er sich doch, nicht den Weg der zivilen Seefahrt gegangen zu sein, zivil und vor allem rechtmäßig; das Piratenleben ist ihm, den zahlreiche Gebrechen und Wehwehchen plagen, nurmehr ein böser Traum. Wenn er wieder einmal mitten in der Nacht, schreiend und mit vor Schreck aufgerissenen Augen erwacht, wirken seine Lebensentscheidungen längst nicht mehr so erstrebenswert und glamourös wie in seiner Jugend. Um wie vieles…

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Das Innerste nach Außen

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Ruben Pelzfuß schlüpfte in seine Klopantoffeln und machte sich auf den Weg zum Abort. Wie jeden Morgen schwor er sich, bald eine Wohnung mit eigener Toilette zu suchen. Bis zum Abend würde er es wieder vergessen haben, denn Rubens Alltag ließ kaum Platz für Veränderungen. Erst beim nächtlichen Stuhlgang würde der Gedanke wiederkehren. Obwohl er den Weg über den Hof in den Bretterverschlag bereits auf Kindesbeinen gegangen war, hatte er sich bis heute nicht daran gewöhnt, den Lokus mit den übrigen Hausbewohnern teilen zu müssen. Nichts war ihm unangenehmer, als auf einen Nachbarn zu treffen, der sein Geschäft dort verrichten…

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Zeitenwechsel

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„Teilweise hast du recht“, sagte Irmgard, den Tonfall ihres Mannes nachahmend, wenn der mal wieder genervt von der Einfalt seiner Mitmenschen, sich anschickte, sein überlegenes Wissen mit der Welt zu teilen. „Es ist niemals nur schwarz, niemals nur weiß, wenn man sich traut, die Theorie mit der Praxis zu vergleichen. Auf dem Papier kann man natürlich klar unterscheiden, was richtig und was falsch ist.“ Sie nahm einen herzhaften Schluck aus der Bierflasche. Das Bier war warm und schal, abgestanden wie Deodorant an einem schwülen Tag; sie hob den Arm ein wenig und roch an ihrer Achselhöhle. Ihr Mann stierte auf…

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Diebesgut

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Auch die Bescheidensten unter uns halten sich für etwas Besonderes. Gewiss, es ist verständlich. Durch einen dunklen Tunnel aus Fleisch presst uns eine unsichtbare Macht mit Gewalt hinaus. Ohne Orientierung, fast blind und mit weicher Schädeldecke, betreten wir die Welt und sind angewiesen auf Güte, Futter und Information. Nach so einem Abenteuer gleich zu Beginn fühlt man sich eben außergewöhnlich. Sie vermuten ganz richtig, dass ich mir so eine weise Rede nicht selbst zurecht gedacht habe. Am äußersten Ende meiner Jugend weigerten sich meine Eltern, mir das Bummelstudium noch länger zu vergüten, und ich nahm eine Stelle als Klinkenputzerin im…

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Frühjahrstag, warm

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Ich wünschte, ich wäre der Schmetterling auf deinem Dekolletee. Das stelle ich mir lohnend vor: Als Bild auf deiner Haut die Welt zu betrachten. Du könntest mich herumtragen, mir all deine liebsten Stellen in der Stadt zeigen, deine Zufluchtsorte. Ich hingegen gäbe dir etwas Verwegenes, eine Aura des Aufruhrs im Rahmen des gesellschaftlich gerade noch Akzeptablen. So wäre uns beiden gedient; ich käme mal wieder raus und du könntest diejenige sein, die du gerne wärst und bist. Doch wer bin ich, dass ich es auch nur wagte, dich länger zu betrachten, als es in unseren Breiten schicklich ist? Passend dazu…

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Korkenzieherromantik

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Am Vorhang der Nacht hängt eine abgegriffene Kordel. Wenn mich die Sehnsucht packt, klettere ich daran hinauf wie ein Äffchen. Meine Mutter steht glotzäugig unten und ruft mir besorgt hinterher, das ginge so nicht. Im Mondlicht ringt sie die fahlen Hände und watschelt die Bühne auf und ab. Eine Weile klingt mir noch ihr Lamentieren in den Ohren, aber weiter oben pfeift der Wind und ich höre sie nicht mehr. Nur ihre Fäuste, die sie dem Himmel entgegen schüttelt, sind noch lange als weiße Punkte zu sehen. Ich setze mich auf das Mäuerchen am Ende der Troposphäre und warte voller…

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