Kurzgeschichten

Die Hand, die mich füttert

By

Den Hügel hinab ist das Gehen mühsam, besonders bei Tauwetter. Die Räder des Rollators drehen wilde Kreise im Matsch. Wie Fliegen, die man von einem Kadaver aufscheucht. Ich selbst finde schon lange keinen Halt mehr, auch nicht bei trockener Witterung. Aber heute, bei Sturm und Regen, die Straßen und Wege rutschig, als wären sie mit Seife beschmiert – da wäre ich am liebsten zu Hause im Bett geblieben, auch wenn die Fenster undicht sind und kein Öl für den Ofen da ist. Doch will ich nicht hungern, also bleibt mir nichts übrig, als den beschwerlichen Weg zum Brötchengeber zu gehen….

Read More

Girlsday

By

Da jaulte und bellte ein kleines Mädchen wie der sprichwörtliche getretene Hund hinter mir; dafür sollte es im Grunde von den Eltern bestraft werden, fanden die Eltern: Riemenschläge gegen das rosa Schnäuzchen. Flaschensammler sammelten Flaschen, Zitronenfalter flogen umher. „Ich bin eine ZitronenfalterIn. Mit großem I und großem Stolz.“ Jetzt war es an der Zeit, ein Wort der Entschuldigung zu finden. „Ich … äh … wusste gar nicht, dass Frauen, und noch dazu so attraktive junge Frauen“, fügte ich altherrenhaft augenzwinkernd hinzu, „das Handwerk des Zitronenfaltens in der heutigen Zeit noch als anstrebenswerten Tätigkeitsbereich wahrnehmen.“ „Patriarchaler Kackscheiß!“, rief die FalterIn und…

Read More

Auf dem Viehhof

By

Von Zeit zu Zeit legt Gott die Würfel beiseite, wird Fleisch. Manchmal veranstalten die Leute ein großes Getue darum, aber meist nimmt niemand davon Notiz. Ich begegnete ihm auf dem Viehmarkt. „Die Seele ist ein Wind, der einem aus den Augen weht.“ Suchend sehe ich mich um, wer das gesagt hat. Die Tiere stehen in Ständern angebunden, eins neben dem anderen, wie Dominosteine. Die Halle ist bis unter das Dach angefüllt mit Geräuschen, verdickt zu einer Schichtspeise. Scharren von Hufen auf Beton und Stahlgittern. Urin, der in dichtem Strahl in eine Rinne rauscht. Stimmengewirr, durchbrochen von Husten, Lachen oder Rotz…

Read More

Die Seegullen

By

Eine eigens für diese Zwecke abgerichtete Meerkatze erzählt eines windstillen Abends dem Schiffsarzt Callico folgende Geschichte: „Seegullen flogen an der Strandpromenade über die Touristen hinweg, praktisch unbemerkt. Einzig Callico, der Aufmerksame, erfreute sich an der Waghalsigkeit, am Wagemut ihrer Flugmanöver. Die Seegullen hatten sich zu dritt ein Kleinkind geschnappt und stritten um die Beute. Voll innerer Verwegenheit wog Callico Für und Wider einer Rettung ab. Seit den frühen Morgenstunden hatte er überlegt, was es dieser Tage braucht, um als der Held, der man ist, erkannt und anerkannt zu werden. Zuhause, hatte Callico, der Unschlüssige, befunden, war die Möglichkeit, Heldentum zu…

Read More

Auschwitz ist mir egal

By

Als Kind habe ich mich für den Tod von Millionen Menschen verantwortlich gefühlt. Nicht im übertragenen Sinn, sondern so, wie ein Kind sich eben verantwortlich fühlt. Schuldig. Jaja. Reden Sie nur. Ein Kind weiß ja mit einer Zahl in der Größenordnung gar nichts anzufangen. Und den Tod kann sich so ein Kind nicht vorstellen. Sie vielleicht. Ich konnte mir jahrelang kaum etwas anderes vorstellen. Keinen Gedanken konnte ich denken, der sein Ende anderswo gefunden hätte. Nicht einmal ein Käsebrot konnte in meinem Kopf Gestalt annehmen, ohne dass im Hintergrund Leichenberge zu sehen gewesen wären, mächtig und endlos wie die Nordkette…

Read More

Zwischenmenschlich

By

Ich war entzückt, als ich sie wiedersah. Sie trug ihr Haar anders, sie hatte ihren Look geändert; sie war mitnichten die graue Maus, als die ich sie in Erinnerung behalten hatte – vielmehr wirkte sie wie eine Geschäftsfrau, der das Leben übel mitgespielt hatte, und die immer öfter Zuflucht und Trost im Alkohol suchte. „Mensch, wir haben uns ja ewig nicht gesehen“, platzte ich heraus. „Wie viele Jahre sind es gewesen? Zwölf? Fünfzehn?“ Obwohl ich mir aufgrund des Wesens und der Gestalt unserer Trennung sicher war, dass sie mich nicht vergessen haben konnte, wirkte sie überrascht, ja erstaunt, mich zu…

Read More

Der Barde

By

Als der Barde noch ein Knabe war, sang er immer von der Alm ins Tal hinunter. Die Stimme war weich und klar, wie das Wasser, das im Bächlein über das Moos auf den Steinen rann. Die Leute hielten in ihrem Tagwerk inne und hörten seine Lieder. Sonntags verbrannte der ein oder andere Braten, weil eine Küchenmagd träumend vor sich hinsummte. Eines Abends begab es sich, dass ein weißer Kater durch das Tal kam. Er nahm auf einem dunkelgrauen Felsen im Mondlicht Platz und begann ein Liebeslied aus seiner Heimat zu singen, in der Hoffnung, bald von willigen Kätzinnen umringt zu…

Read More

Auf den Punkt gebracht

By

Und aus dem Dreck unter meinen Nägeln forme ich Figürchen – gestalte hier ein bisschen, modelliere dort, verwandle Horst Wessel in Rosa Luxemburg in Robin Hood in Rotkäppchen. Ich lasse sie auf dem Karussell fahren, das ich eigens für sie aus halben Strohhalmen und einer leeren Streichholzschachtel gebastelt habe. „Bitte alle einsteigen!“, rufe ich beherzt. „Zu-rückbleiben bitte! Vorsicht bei der Zugausfahrt!“ Die nächsten Minuten stehen im Zeichen der Zentrifugalkraft, die vier Figuren kreischen und klatschen vergnügt in die Hände. Doch auch die schnellste Fahrt geht mal zu Ende. Horst Wessel streicht sich das Haar aus der Stirn und zieht vor…

Read More

Haifischzähne

By

Zum neuen Jahr war ich eingeladen. Bei der Tombola gewann ich den ersten Preis: einen Eierschneider. Es gab noch Punsch und Palaver, Tanz selbstverständlich auch. Wie ich im Morgengrauen zur Garderobe gehe, den Hauptgewinn unter den linken Arm geklemmt, bemerke ich einen dünnen Mann, der mich voll Trauer ansieht. Er kommt mir bekannt vor, also bleibe ich stehen und wühle in meinen Erinnerungen. Ich trage sie in einem Beutel über der Schulter, der von den meisten für meine Handtasche gehalten wird. „Soll ich deine Handtasche mal halten?“, fragen sie, wenn ich nach dem Portemonnaie in der Jacke suche, und wundern…

Read More

Unterwegs #437 – Machtdemonstrationen einer neo-territorialen Zeit

By

Einfach tun, als wenn es immer so weitergehen würde, immer so weitergehen könnte. Etwas über Lachen, Pfützen aus Urin und Kinderlachen, herzlich schrill im Ohr, im Tunnel, wo es hallt und schallt. Der Rest schreibt sich von selbst: Ein Hund schnüffelt an der Pfütze, wendet sich angewidert ab – wohl weil es Menschenurin ist – erkennt den Geruch im Schoß eines Geschäftsmannes, beschnüffelt und bespringt ihn, Kinder schüttelt ein Lachen, Kinder kreischen, der Mann ist tief beschämt. Der Hundebesitzer bemerkt es spät und ruft das Tier halbherzig zurück. Die Kinder heben spielerisch ihr Bein und geben vor, ihr Revier zu…

Read More