Kurzgeschichten

Der Brückenwart

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Um das Badezimmer zu erreichen, muss ich eine Brücke überqueren. Sie führt über einen Fluss, der eine Idee zu breit ist, um darüber springen zu können. Jedes Mal denkt man, die Strecke sei mit einem kräftigen Anlauf zu bewältigen, aber es gelingt nie. So habe ich die Wahl, entweder Misserfolg an Misserfolg zu reihen, oder aber ich setze mich der Laune des Brückenwarts aus. Ein verschlagener kleiner Kerl mit dickem Bauch ist das. Wenn es ihm einfällt, öffnet er die Brücke, während ich gerade hinübergehe und ich falle ins eisig-schwarze Wasser. Dann lacht er schadenfroh oder schimpft höhnisch, ich sei…

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Das Thema des Tages

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Mal hält die Hand den Stift Mal flieht der Stift der Hand Mal fliegt der Geist ganz frei Mal hat er sich verrannt. (Ennio Del Beta) Um vor einem ernsten Thema nicht Reißaus zu nehmen, möchte ich anmerken, dass jedwede Einmischung einer dritten Person nicht nur unerwünscht, sondern hochgradig kontraproduktiv wäre und somit zu unterlassen ist. Fragen Sie mich stattdessen zum Thema des Tages, trauen Sie sich! Täten Sie es, Sie würden mich sprachlos finden. Es fällt mir schwer, mir das Morgen als ein Gestern, ja, als ein Heute vorzustellen. Meist rufe ich wie eine neuzeitliche Kassandra den entsetzten Spott…

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Erschießungskommando

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In mir schläft ein Lied. Weil ich nicht gut singe, hüte ich mich es zu wecken. Abends, vor dem Einschlafen, knirsche ich mitunter seine Melodie leise mit den Backenzähnen. Als Mädchen wurde ich dafür gescholten, egal wie leise ich auch die Zähne gegeneinander reiben mochte. Aber das ist das Los der Kleinen und allzu lange hält die Kindheit ja nicht vor; ehe man sich daran gewöhnt hat, trocknen die Tränen, bekommt man die Füße nicht mehr hinter die Ohren und das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Man beginnt, sich selbst zu schelten, auch und gerade für Kleinigkeiten. Jeden Morgen…

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Menschliches, allzu Menschliches

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Betrachtet man vergangene Jahre mit ausreichendem Abstand, wirken sie harmlos, geradezu heiter. Sicher, über manches in der Vergangenheit mag man sich wundern, womöglich ärgern; vieles betrachtet man mit dem Unwillen eines Mannes, der morgens nicht aus dem Bett will, aber sich durch Aufgaben, wie beispielsweise dem Dienst an der Allgemeinheit, dazu gezwungen sieht. Eines schönen Tages, ich war noch nicht ganz dem Grundschulalter entwachsen, bekam ich Besuch von einem Käuzchen. Nicht, dass ich damals hätte mit Bestimmtheit sagen können, dass es sich bei meinem gefiederten Besucher um ein Käuzchen handelte; Vogelkunde oder Typologisierung der Umwelt waren mir fremd. Sagen wir,…

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Klauenseuche und Politik

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James Scheuß erwacht immer einen Augenblick vor dem Knistern des Deckenlautsprechers. Eine Angewohnheit, die er sich schon lange zu eigen gemacht hat. Ein Widerstand, eine Freiheit, vom Großen Ganzen unbemerkt, denn er stellt sich schlafend, um dann, im Moment des elektronisch verstärkten Geräuschs, mit einem gehetzten Schrei hochzufahren. „Habe ich mich genug angestrengt für das Große Ganze? Das ist die Frage, die wir uns alle stellen!“, dröhnt die Stimme mit unerbittlicher Freundlichkeit auf James herunter. Noch nie im Leben hat er sich diese Frage gestellt, hat es auch nicht vor. Ausgesprochen, ja, das wohl, aber lediglich mit verstellter Stimme. Es…

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Die Visite

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„Hier müssen Sie jetzt aufpassen – hier stößt man sich ganz leicht den Kopf.“ Veit Lochner, ein Mann aus der Abteilung Öffentlichkeitspflege und Kontaktarbeit, bückt sich und betritt das Kellergewölbe vor Rudolf-David Krenz, neugekürtem Vorstandsmitglied des Kontrollausschusses. „Hier ist noch vieles aus dem Stegreif gefertigt und noch sind nicht all unsere Pläne umgesetzt.“ Die beiden Männer steigen tiefer und tiefer die Treppe hinab; Moder lässt die Stufen schmatzen. „Hier ist es glitschig, ich bitte Sie, passen Sie auf! Sie wären nicht der Erste, der hier ausrutscht. Nicht einmal der Erste heute.“ Das Licht aus Veit Lochners fingerdicker Stablampe wird von…

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Schuld und Sühne zur besten Sendezeit

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Ein beängstigendes Klacken taucht den Raum in weißes Licht. Wüsste Frau Mittwisser es nicht besser, würde sie mit der Erscheinung eines Engels rechnen. Sie hält sich das Familienalbum vors Gesicht, um die Augen vor dem Gleißen zu schützen. Neben ihr sitzt ein Herr mit pfeifendem Atem. Er reckt den fleischigen Hals, damit er einen Blick in ihr Album werfen kann. Darin sieht man den Großvater mit Strickjacke und Scheitel in der Küche auf und ab gehen. Ungehalten blinzelt er ins helle Licht, das durch die aufgeklappte Seite ins Album fällt. „Meine Großeltern hatten sogar für einige Wochen einen Juden auf…

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Goodbye, Dario Fo

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Und so fand sich Dario Fo eines Morgens nach dem Aufwachen über und über von rosa Punkten in unterschiedlichen Größen bedeckt. „Unschön“, sagte Dario Fo mit belegter Stimme, bevor ihn der morgendliche Hustenanfall durchschüttelte. Die Punkte hoben sich deutlich von seiner blassen Haut ab. Vielleicht ein verspätete Kinderkrankheit, dachte er. Vielleicht, und bei diesem Gedanken stockte ihm der Atem, vielleicht sogar die Pest. Zwar wusste Dario Fo nicht mit letzter Sicherheit, ob rosa Punkte wirklich Anzeichen der Pest sind, aber er glaubte sich erinnern zu können, irgendwo irgendwann etwas Dementsprechendes gelesen zu haben. „Also die Pest“, murmelte er nach der…

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Morgen kein Tag

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Obwohl man ständig nach Gerechtigkeit ruft, klagt man über den Tod. In seinem Angesicht sind alle von gleicher Geltung. Pflanze, Tier, Kind, Greis, Mörder und Mönch: Er liebt sie alle. Mag sein, den einen ereilt er, bei der nächsten lässt er sich Zeit. Nimmt jeden Tag nur ein Schlückchen. Wie unangenehm da die Alltäglichkeit wird. Es soll doch jeder Augenblick einzigartig sein! Wer möchte sich schon an die letzten Worte „Bring mir einen Sahnekefir mit!“ erinnern? Oder schlimmer noch – sie ausgesprochen haben. Und hinterher erst. Man hätte unbedingt noch dies sagen wollen, jenes aus der Welt schaffen oder in…

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Alltägliche Abstraktion der Ichsucht

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Ich fange frisch an, ich gehe voran, weil alle hinter mir zu langsam sind. Wer ruft in den Wald? Das himmlische Kind. Es schallt. Wer ruft, sobald ein Licht sich seinen Weg durch Laubgewimmel bricht: „Ich bin der Herr, ich bin der Weg und Wille. Mein Wille geschehe.“ Wenn ich den Sachverhalt so drehe, kommt er mir ein wenig komisch vor. Und alle Kinder fragen: „Wer mag der Herr wohl sein?“ Mein Wille geschehe – geschehe, was wolle, aus vollen Wolken schöpfen, öfter mal ein Zicklein köpfen, öfter mal nach links und nach dem Rechten sehen (noch immer soll nur…

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