Literarisches

Erzähl mir nix!

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„Heute“, sagte der glutäugige Jüngling zu Regina Pelzfuß, „will ich dir vom Steinadler erzählen.“ Er fasste ihre Hand und drückte sie, exakt an der Grenze zwischen sanft und fest, als wisse er genau, wo die sei. Regina Pelzfuß rutschte unbehaglich auf ihrem etwas in Jahre gekommenen Apfelhintern hin und her. „Vom Steinadler? Besser nicht. Erzähl‘ lieber was anderes! Vom Elefanten oder von einer Bahnfahrt.“ Sie sah zu der Klappe hinauf, die zum Dachboden führte, wo sie vor langer Zeit den Adler in den Schlaf gesungen hatte. Bestimmt würde er aufwachen, wenn von ihm die Rede war. Doch der junge Mann…

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Hyperlink

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Die Welt lebt in meinem Schuh. Die Erde, der Graue Planet, und alle, die auf & über ihr existieren, gerade geboren werden oder im Begriff sind zu sterben, lassen meine Sohle erzittern. Vibrationen, die mein Körper missdeutet und in Worte und Gedanken verwandelt. Worte und Gedanken, Dieses und Jenes prasseln stetes Prickeln. Die Welt ist Rauch, dampft mir der Kopf, heben sich Schwaden von der Stirn und formen Wölkchen, aus denen es spitz und kalt herab trommelt. Ein Kreislauf wie Wasser und Strom, Aggregatzustände wechseln und hinterlassen Haufen aus Plasma und negativer Spannung: Oh, ihr Freunde, aufgewacht! Die Frühjahrssonne lacht…

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Speed-Dating

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„Für jeden kommt der Tag, an dem man mehr Tote als Lebende kennt.“ „Was für ein Unsinn. Wenn man in jungen Jahren stirbt, oder gar als Baby, dann kennt man sicherlich mehr lebende Menschen – oder als Baby womöglich gar keine, außer der eigenen Mutter und der Hebamme.“ „Sie haben mich nicht ausreden lassen. Eine unschöne gesellschaftliche Entwicklung. Man fällt den Leuten ins Wort, sobald man Platz für Widerspruch entdeckt. Äußerst unschön.“ „Also gut. Wie geht es denn weiter? Das würde mich jetzt interessieren, was da noch kommen soll, damit etwas anderes als theatralischer Pomp entsteht.“ „Ach, lassen Sie es…

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Superesse in Nivis

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Hans Löser kämpft mit den Schneeflocken. Sie umschwirren ihn, schwärmen aus und sammeln sich wieder in Böen, greifen an und peitschen sein Gesicht. Was hatte sie zum Abschied gesagt? Er wisse nichts vom Leben, von der Liebe, vom Beieinander. Hans Löser seufzt und schlägt mit der Faust ins Glitzern um seinen Kopf. Er weiß sehr wohl von der Liebe, weiß, wie sie glüht, weiß, wenn sie lodert. Wie es ist, wenn der Sturm die Flammen links und rechts ohrfeigt. Hans Löser duckt sich und windet seinen Körper. Da packt ihn ein Windstoß im Genick, drückt ihn zu Boden, ins frostig…

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Der Zöllner

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Matthias Pelzfuß steht auf dem Balkon und blinzelt in die Morgensonne. Es ist bei weitem nicht so warm, wie es vom Bett aus ausgesehen hat. Die Kälte breitet sich auf seinen Fußsohlen aus. Heute ist sein großer Tag, sein erster Tag als Zollhauptwachtmeister. Viele Jahre seines Lebens hat er als gewöhnlicher Zollwachtmeister verbracht, stets pünktlich, niemals krank. Damit sich das nicht ändert, geht Matthias Pelzfuß zurück in seine Wohnung und zieht sich warme Socken an. Veränderungen sind ihm nicht geheuer. Der Sprung vom Wachtmeister zum Hauptwachtmeister scheint ihm für einen Tag genug, da braucht er nicht auch noch auf kalten…

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Das Zeitalter der Krähe

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„Wie man weiß, sind Krähen sehr intelligent, wenn auch nicht unfehlbar.“ So sollte eigentlich meine neueste Geschichte beginnen. Den Satz trage ich bestimmt schon seit sechs Monaten mit mir herum. Und ebenso lang erzähle ich auch schon, die Geschichte endlich schreiben zu wollen. Jüngst auch meinem Nachbarn Krause, der sich zur Gewohnheit gemacht hat, regelmäßig bei mir vorbeizuschauen, um zu sehen, ob ich etwas zu essen oder zu trinken benötige. „Wie weit bist du denn mit der Geschichte?“, fragte er mich und ich zuckte mit den Schultern. „Die wird, die wird“, antwortete ich etwas nebulös, darauf bedacht, Krause nicht direkt…

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Jahreswechsel

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Also, ich werde mir vorerst kein neues Jahr zulegen. Das alte ist noch gut in Schuss und es gibt keinen Grund, es schon zu entsorgen. Im Gegenteil, nachdem ich mir bis in den Mai hinein Blasen darin gelaufen habe, ist es jetzt gerade richtig bequem und ich finde mich endlich darin zurecht. Diese kapitalistische Propaganda, jedermann brauche ständig ein neues Jahr, will ich nicht länger glauben. Wenn man sparsam und pfleglich damit umgeht, hält so ein Jahr ewig. Na ja, ewig vielleicht nicht, aber, sagen wir, bis Juni auf alle Fälle. Ich werde morgen keck mit meinem alten Jahr herumstolzieren,…

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Früher, ja früher

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Erinnerungen? Pah! Erinnerungen sind etwas für Privilegierte. In meiner Jugend waren wir so arm, wir konnten uns nichts Erinnernswertes leisten. Manchmal schlug uns der Vater mit einem Stock, aber auch nur, wenn er ihn nicht versetzt hatte, um der Mutter Lutschpastillen zu kaufen. An Festtage glaube ich schon mal gar nicht. Unsere Tage der Besinnlichkeit fingen immer erst im Januar an, wenn die Nachbarn ihre Tannen oder Fichten auf den Gehsteig warfen und wir sieben Kinder uns über die am Baum verbliebenen Nadeln hermachten, und mit neidischen und missgünstigen Blicken auf ihnen kauten, bis unsere kleinen Gaumen bluteten. Dieses Jahr…

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Eichmann zur Miete

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Als mein letzter Untermieter an der Franzosenkrankheit verstarb, verbrachte ich die vorgeschriebene Zeit in Trauer. In sieben Minuten weinte ich sieben Tränen und sprach sieben freundliche Worte in seinem Andenken. Anschließend blieben mir noch dreiundzwanzig Minuten, um die Bude wieder in Schuss zu bekommen, denn das Amt würde mir gleich den nächsten schicken. Gerne wäre ich eine Weile alleine geblieben, aber Vorschriften sind eben Vorschriften, und ein wenig plagte mich auch die Neugier, wer der kommende Gast sein würde. Mein Missfallen hätte nicht größer sein können, als kurz darauf Adolf Eichmann vor meiner Tür stand. Er trug einen zu eng…

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Der Nachruf

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Über die Toten soll man nur Gutes sagen. Das ist allgemein anerkannt, auch wenn es Unfug ist. Als würde jeder Makel mit dem Tod abgewaschen und zurück bliebe nichts als Tugend und gutes Benehmen. Der Nachruf auf Helmut Pelzfuß sollte frei von jeder Schönfärberei sein, denn er war ein großer Mann mit wildem Blick und zausem Bart gewesen, der so etwas nicht nötig hatte. Es hatte kein Thema gegeben, über das er nicht aus dem Stegreif eine halbe Stunde hätte referieren können, und er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, genau das zu tun. Zudem war er ein begnadeter Baumeister; landauf landab…

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