Literarisches

Die süße Bohne

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Für Viktor Mundschenk war das Leben eine Plage. Er tat sich schwer, morgens aus dem Bett zu kommen und nachts einzuschlafen. Alles dazwischen gelang ihm selten, weshalb er sich scheute, bei neuen Bekanntschaften seinen Vornamen zu nennen. Nicht, dass er viele Leute kennengelernt hätte. Viktor Mundschenk buk gewöhnlich ein ungewürztes Eigenbrot, das er ohne Belag und in Einsamkeit verzehrte. Nur hie und da gönnte er sich eine Weinbrandbohne, und wenn die scharfe Süße seine Backen füllte, wünschte er, es gäbe jemanden, mit dem er diesen seltenen Genuss hätte teilen können. Eines Tages überfiel ihn eine tollkühne Stimmung. Er packte ein…

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Der dritte Rang

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Gestatten, Finkenzeller. Bertel Finkenzeller. Meines Zeichens Leiter der Süßwarenabteilung des Traditionskaufhauses Detmold & Detmold. Sie haben doch nicht vor, den Kunstgenuss, die Stille, durch ihr Gekeuche zu stören? Vielleicht möchten Sie eine Halspastille? Von hier kann man, wenn die Zuschauer dauernd husten, kaum das Lachen der Götter über das Geschehen unten auf der Bühne hören. Daran muss man immer denken. Heutzutage. Den meisten ist ja so was schnuppe. Sie sind ja bleich wie eine Schneiderpuppe. Ist es das Virus? Ist es Nervenfieber? Lassen Sie mich einmal erklären: Nichts wäre mir doch lieber, als wenn alle Menschen glücklich wären. Der Diversant,…

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Ein Stückchen Hand

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Es empfiehlt sich, in guten Zeiten zumindest einen Raum in der Wohnung mit Speckstreifen zu tapezieren, dann hat man in der Not etwas zu knabbern. Aber wer denkt schon in guten Zeiten an die Not? Da flaniert man irgendeinen Boulevard entlang oder lässt in der Abendsonne die Eiswürfel im bunten Getränk klimpern. Dabei lungert das Elend immer an der nächsten Ecke herum. Den Tipp mit den Speckstreifen habe ich übrigens von meinem Onkel Ralf bekommen, zusammen mit einem Briefmarkenalbum. Zu meinem neunten Geburtstag. Onkel Ralf ist Experte für Drangsal. Selbst die todsicheren Dinge gehen bei ihm schief. Trotz eines Lebens…

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Fashion is my Passion

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Er trug heute wieder einmal seine fleischfarbenen Leggings. Er könne sich in ihnen besser konzentrieren; er sähe die Dinge klarer, wenn er sie trüge. Nicht einer von uns Zwölfen traute sich zu lachen, keiner wollte vortreten und sagen, was wir alle dachten: er sieht in den Dingern unmöglich aus. Die Menschen in den Dörfern, durch die wir zogen, verspotteten ihn sowieso und rotteten sich regelmäßig zusammen, um uns unter Schmähungen und Steinwürfen und Tritten aus ihren Ortschaften zu vertreiben. Unsere Standhaftigkeit und Loyalität wurden ein ums andere Mal auf die Probe gestellt, aber selbst die treuesten unter uns wurden wankelmütig,…

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Der Kriminalroman

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Man müsste, dachte sich Hagen Pelzfuß, einen Kriminalroman schreiben. Er hatte es satt, Sonntag für Sonntag betuliche Lyrik für die Lokalzeitung zu verfassen. Wenn er nur daran dachte, wie die zuständige Redakteurin die altrosa geschminkten Lippen beim Lesen seiner Verse kräuselte, stieg ihm das Erbrochene im Hals hoch. Bis zu dem stand ihm leider auch das Wasser, so dass er auf den Scheck der widerlichen Scharteke angewiesen war. Der Kriminalroman, dachte sich Hagen Pelzfuß, müsse regionalen Bezug haben, und eine schlaue Kommissarin, die gleichzeitig Landesmeisterin im Kickboxen war. Doch um so einen Roman zu schreiben, brauchte man Zeit und Muße…

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Absichtserklärung

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Jörg Gufler schließt die Butterbrotdose und hält den Atem an. Dann atmet er aus und wieder tief ein, beginnt zu hecheln, immer schneller, immer schneller. „86% Atemfähigkeit oder Lungenvolumen oder Kapazität, oder so was Ähnliches. Das sei ein guter Wert, sagt der Arzt. Für einen Mann. In meinem Alter.“ Stolz blickt Jörg Gufler in die Runde seiner Mitfahrer, als erwarte er Applaus oder eine andere Form der Anerkennung. Doch die Passagiere im Linienbus nach Fulda sind nicht an seinen medizinischen Testergebnissen interessiert, wie Gufler missbilligend zur Kenntnis nimmt. Er versucht, indem er ihr mit dem Zeigefinger in die Seite piekst,…

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Unbegrenzte Möglichkeiten

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Der Rauch kratzt mir die Augen blutig, doch den Weg ins Freie verstelle ich mir selbst. Auf dem Tisch ein ehemals weißer Teller mit Resten vom gestrigen Notlügensalat. Es läutet an der Tür, ich will gar nicht wissen, wer das ist. Ein Herr vom Geheimdienst, der mich impfen will, gegen den Ablauf meiner Zeit. Aber das kümmert mich nicht. Soll sie doch ablaufen oder es sein lassen, wie die stockig-braune Brühe in meinem Spülbecken und draußen in den Straßen, wo ich nicht hingehe. Vielleicht auch eine Frau. Heute ist ja alles möglich, heute kann jede alles sein und jeder werden,…

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Der große Piconelli

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Der stadtbekannte Zauberer Piconelli und sein zahmes Äffchen, dem er beigebracht hatte, kleine Pappschilder in die Höhe zu halten, auf denen motivierende Botschaften wie ‚Liebet einander!‘, ‚Tut Buße!‘, ‚Das Ende ist nah!‘ und, später, als der Lockdown uns schon monatelang in seinem harten Griff hielt, ‚Das Ende ist da!‘ geschrieben waren, hatten heute wieder einen Auftritt in der Fußgängerzone. Wir Kinder liebten den schrulligen Straßenmagier und hätten nicht geglaubt, wenn uns jemand erzählt hätte, dass sich hinter der ebenso freundlichen wie expressiven Maske Piconelli ein fanatischer Apokalyptiker verbarg, dessen Zauberkunststücke keine gekauften und erlernten Taschenspielertricks waren, sondern wahre Zeichen und…

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Spaziergang in roten Schuhen

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Eine Frau im enganliegenden Kleid liegt auf dem Kiesweg, mit einem Arm stützt sie sich ab, ein Bein ist neckisch angezogen. Im Hintergrund das Schloss. Der Verschluss der Kamera klickt. Die Frau verharrt noch ein Weilchen in ihrer Pose, bis der Fotograf ihr etwas zuruft. Sie steht auf, klopft sich das Kleid ab. Hinter ihr lauert das Eingangsportal wie ein hungrig aufgesperrtes Maul, bereit Touristentrauben zu verschlingen, doch niemand geht hinein, denn drinnen wartet die Seuche. Die Frau schüttelt ihr Haar, fährt sich mit den Fingern durch und Kiesstaub flimmert im Sonnenlicht. „Wer ihr wohl die Haare so schön gemacht…

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Ein Mann wie Moritz Schmandt

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(…) und dann, nachdem aufgeregt in der Öffentlichkeit gerülpst worden war, begannen die Luftangriffe auf Serbien. Auf dass Milosevic, der Serbe, sterbe. But don’t call it Schnitzel! Wir nannten Schnitzel niemals Schnitzel, auch nicht in Afghanistan, wo wir Tanklastwagen in heiße Luft aufgehen ließen oder in Mali, als wir für Frankreich, die große Nation, geraubte Bodenschätze in Obhut nahmen. Niemals Schnitzel. Schnitzel war etwas für Großväter auf vergangener Europa-Tournee oder in Nordafrika im Wüstenwind von el-Alamein. Fairtrade verdreht ist Handel bizarr und umgekehrt: In den späten Jahren der Herrschaft der Immer-Reicheren hatten wir uns angewöhnt, Routen auf See mit Kanonendonner…

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