Literarisches

Haifischzähne

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Zum neuen Jahr war ich eingeladen. Bei der Tombola gewann ich den ersten Preis: einen Eierschneider. Es gab noch Punsch und Palaver, Tanz selbstverständlich auch. Wie ich im Morgengrauen zur Garderobe gehe, den Hauptgewinn unter den linken Arm geklemmt, bemerke ich einen dünnen Mann, der mich voll Trauer ansieht. Er kommt mir bekannt vor, also bleibe ich stehen und wühle in meinen Erinnerungen. Ich trage sie in einem Beutel über der Schulter, der von den meisten für meine Handtasche gehalten wird. „Soll ich deine Handtasche mal halten?“, fragen sie, wenn ich nach dem Portemonnaie in der Jacke suche, und wundern…

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Unterwegs #437 – Machtdemonstrationen einer neo-territorialen Zeit

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Einfach tun, als wenn es immer so weitergehen würde, immer so weitergehen könnte. Etwas über Lachen, Pfützen aus Urin und Kinderlachen, herzlich schrill im Ohr, im Tunnel, wo es hallt und schallt. Der Rest schreibt sich von selbst: Ein Hund schnüffelt an der Pfütze, wendet sich angewidert ab – wohl weil es Menschenurin ist – erkennt den Geruch im Schoß eines Geschäftsmannes, beschnüffelt und bespringt ihn, Kinder schüttelt ein Lachen, Kinder kreischen, der Mann ist tief beschämt. Der Hundebesitzer bemerkt es spät und ruft das Tier halbherzig zurück. Die Kinder heben spielerisch ihr Bein und geben vor, ihr Revier zu…

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Frau Machatschek träumt von der Südsee

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Nathan Söder ist in der Nachbarschaft ob seiner Hinterfotzigkeit verrufen. Man sagt ihm nach, er lege Giftköder und Kekse mit Nadeln für Hunde und Katzen aus. Auch stellt er den Kindern hin und wieder ein Bein oder gibt ihnen einen heimtückischen Stoß, wenn sie üben, wie man mit dem Fahrrad fährt. Ich finde ihn gar nicht so schlimm. In einer Welt voller Fassbomben und Sklavenhandel sind solche Dinge Kleinigkeiten. Jeden Morgen nimmt mich Nathan Söder im Beiwagen seines Motorrades mit zur Arbeit. Wir sind in der Fabrik für Nasenrubine beschäftigt. Meine Tätigkeit ist nicht anstrengend und ich habe ein bescheidenes…

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Der Priester

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Der Priester muss weg, der Priester soll gehen. Der Priester trägt heute ein Hemd, auf dem das Alphabet gestickt ist. Alle Wörter dieser Welt kann er aus den Buchstaben formen: Artenvielfalt, Beschlusskraft, Dissonanz, Wolgaschifffahrt, um nur ein paar zu nennen. Doch der Priester hat den Bogen überspannt, findet die Dorfgemeinschaft. An einem Abend im Sommer beschlossen die Ältesten, dass das Fass nun voll, übervoll und die Zeit gekommen sei, dem Priester ein für allemal und unmissverständlich klar zu machen, dass nun Schluss sei mit Worten und immer nur Worten. Das Dorf wollte den Priester hängen sehen oder brennen oder in…

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Eingeschränkte Zukunftsaussicht

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Und weil ich meine Suppe nicht essen wollte, wurde ich an den Stuhl gefesselt, meine rechte Hand an den Tisch genagelt – Vater war handwerklich begabt und mit Werkzeugen gut bestückt – in die linke gab man mir einen eigenen Löffel. „Wir haben Zeit“, sagten die Eltern immer. Mutter verließ kurz darauf die Familie, in der Hoffnung ein neues und besseres Leben führen zu können – Vater ist auch schon Jahre tot. Der einzige, der wirklich Zeit hatte, sich einer Aufgabe, lohnend wie diese, zu widmen, war ich. So sitze ich noch heute am Tisch, betrachte traurig meine Suppe und…

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Der Brückenwart

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Um das Badezimmer zu erreichen, muss ich eine Brücke überqueren. Sie führt über einen Fluss, der eine Idee zu breit ist, um darüber springen zu können. Jedes Mal denkt man, die Strecke sei mit einem kräftigen Anlauf zu bewältigen, aber es gelingt nie. So habe ich die Wahl, entweder Misserfolg an Misserfolg zu reihen, oder aber ich setze mich der Laune des Brückenwarts aus. Ein verschlagener kleiner Kerl mit dickem Bauch ist das. Wenn es ihm einfällt, öffnet er die Brücke, während ich gerade hinübergehe und ich falle ins eisig-schwarze Wasser. Dann lacht er schadenfroh oder schimpft höhnisch, ich sei…

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Das Thema des Tages

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Mal hält die Hand den Stift Mal flieht der Stift der Hand Mal fliegt der Geist ganz frei Mal hat er sich verrannt. (Ennio Del Beta) Um vor einem ernsten Thema nicht Reißaus zu nehmen, möchte ich anmerken, dass jedwede Einmischung einer dritten Person nicht nur unerwünscht, sondern hochgradig kontraproduktiv wäre und somit zu unterlassen ist. Fragen Sie mich stattdessen zum Thema des Tages, trauen Sie sich! Täten Sie es, Sie würden mich sprachlos finden. Es fällt mir schwer, mir das Morgen als ein Gestern, ja, als ein Heute vorzustellen. Meist rufe ich wie eine neuzeitliche Kassandra den entsetzten Spott…

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Erschießungskommando

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In mir schläft ein Lied. Weil ich nicht gut singe, hüte ich mich es zu wecken. Abends, vor dem Einschlafen, knirsche ich mitunter seine Melodie leise mit den Backenzähnen. Als Mädchen wurde ich dafür gescholten, egal wie leise ich auch die Zähne gegeneinander reiben mochte. Aber das ist das Los der Kleinen und allzu lange hält die Kindheit ja nicht vor; ehe man sich daran gewöhnt hat, trocknen die Tränen, bekommt man die Füße nicht mehr hinter die Ohren und das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Man beginnt, sich selbst zu schelten, auch und gerade für Kleinigkeiten. Jeden Morgen…

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Menschliches, allzu Menschliches

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Betrachtet man vergangene Jahre mit ausreichendem Abstand, wirken sie harmlos, geradezu heiter. Sicher, über manches in der Vergangenheit mag man sich wundern, womöglich ärgern; vieles betrachtet man mit dem Unwillen eines Mannes, der morgens nicht aus dem Bett will, aber sich durch Aufgaben, wie beispielsweise dem Dienst an der Allgemeinheit, dazu gezwungen sieht. Eines schönen Tages, ich war noch nicht ganz dem Grundschulalter entwachsen, bekam ich Besuch von einem Käuzchen. Nicht, dass ich damals hätte mit Bestimmtheit sagen können, dass es sich bei meinem gefiederten Besucher um ein Käuzchen handelte; Vogelkunde oder Typologisierung der Umwelt waren mir fremd. Sagen wir,…

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