Das Leid

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„Das Leid“, sagte der Mann, „lässt sich nicht messen. Denn das Leid ist eine persönliche Angelegenheit.“ Er ging mit schwungvollen Schritten den Bühnenrand entlang. In der Hand hielt er ein Kästchen, das durch Drücken der bunten Knöpfchen Bilder auf der Leinwand hinter ihm erscheinen ließ oder einen dünnen, roten Lichtstrahl ausspuckte, mit dem er auf wichtige Einzelheiten deuten konnte. „Wer nichts Schlimmeres kennengelernt hat, dem beschert ein eitriger Backenzahn unermessliches Leid, auch wenn eben jener Backenzahn dem hungernden Sklaven nur eine kleine Unannehmlichkeit bedeutet.“ Er bleckte seine weißen Zähne, die gewiss nichts von Eiter wussten, und hob einen manikürten Zeigefinger….

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Fehleinschätzung

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Ich nenne zahlreiche Talente mein Eigen, doch Menschenkenntnis gehört nicht dazu. Auch mit Pflanzen kenne ich mich nicht aus, aber mein Alltag ist so eingerichtet, dass ich es selbst kaum bemerke. Gänseblümchen, Löwenzahn, Birke, Eiche, Weihnachtsbaum, mehr benötige ich in der Regel nicht. Meine Mitmenschen richtig einschätzen und beurteilen zu können, das wäre ein Sache, in der ich gerne Meisterschaft oder wenigstens vage Ahnung erlangen würde. Selbst von Letzterem bin ich himmelweit entfernt. Wo andere im menschlichen Miteinander über Vorhersehbarkeit und ewiggleichen Trott klagen, ist meine Überraschung kolossal. Nicht einmal den Zorn meines Vaters konnte ich vorhersehen, als ich ihm…

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Der Becher

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Viel zu selten kommt die Frage auf, worin eigentlich die Menschlichkeit besteht, gegen die immer wieder irgendein Bösling ein Verbrechen begeht. Die Leute senken betreten die Stimme oder heben sie voller Empörung – je nach Temperament – wenn sie über den Übeltäter sprechen, doch scheint die Menschlichkeit etwas zu sein, das nur sichtbar wird, wenn man sie schubst oder boxt. Im Alltag hört man kaum etwas von ihr. „Ich bin auch nur ein Mensch!“, pflegte mein Onkel Maximilian, Busfahrer und Sozialdemokrat, auszurufen, wenn meine Großmutter ihn rügte, weil er uns Kinder zwang, seinen käsigen Schwanz abzulecken. Gestern traf ich ihn…

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Der Schwur

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Irgendwann erreicht man das Eierliköralter. Daran führt außer dem frühen Tod kein Weg vorbei. Eben stand man noch in einem muffigen Club am Rand der Tanzfläche und wackelte mit den Hüften, in der Hand ein Glas Buntes oder eine Flasche Bier, da findet man sich – ohne denkwürdigen Abschied – abends auf dem Sofa und schlürft das gelblich-zähe Zeug aus einem Schokoladenbecher zum Fernsehkrimi. Auch Isabella Pelzfuß erging es nicht anders, nur dass ihre Füße auch noch in dicken, zu Tigertatzen geformten Plüschpantoffeln steckten. „Warum auch nicht?“, rief sie aus, als ihr der Unterschied zu vergangenen Samstagabenden bewusst wurde. „Weil…

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Waldos Auferstehung

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Wenn die Christenheit ungeduldig mit den Hufen scharrt und auf das große Fest der Auferstehung wartet, erinnere ich mich an meinen Vetter Waldo. Obwohl er einige Jahre älter war als ich, war mir seine frühe Kindheit bekannt, denn bei Familienfeiern war es üblich, stundenlang Super-8-Filme über ihn anzusehen, in denen jedes noch so kleine Malheur dokumentiert war. Es gab den Film, in dem Waldo von der Wickelkommode fällt, Waldo, wie er auf seinem Töfpchen sitzt und mit all seiner kindlichen Kraft versucht, eine Kotwurst hervorzupressen und natürlich Waldo, wie er vor Schmerzen brüllt, weil er seine speckigen Finger in einen…

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Abgeschmacktes

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Man muss etwas dazu sagen und sei es noch so abgeschmackt. Es will niemand einen Krieg und dennoch gibt es ihn. Er ist so alt wie die Menschheit. Also fast so alt wie das Rad. Vielleicht sollte man dahin zurückgehen, wo es noch keine Räder gibt. Aber wie kommt man da hin? Zu Fuß oder auf Kufen, sonst könnte man sich den Weg gleich sparen. Das sind gemütliche Gedanken, die man sich machen kann, wenn einem nichts weiter als Birkenpollen um die Nase fliegt. Andere Leute packen ihre Habseligkeiten zusammen und sehen zu, dass sie fortkommen, zu Fuß, auf Rädern,…

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Die Miete

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Nicht einmal die Jahreszeiten sind noch echt. Sieht man aus dem Fenster, wähnt man sich im Frühling, doch draußen pfeift ein eisiger Wind um die Häuserecken, dass einem die Ohren taub werden. Das wiederum macht nichts aus, denn zu hören gibt es ohnehin nichts von Bedeutung. Und es stimmt auch nicht. Zu meinem Leidwesen höre ich allzu gut: Das Brummen des Wagens meiner Hauswirtin zum Beispiel. Ein dunkelgraues Ungetüm, groß wie ein Panzer, das bedrohlich unsere Hofeinfahrt blockiert. Zum Zeichen ihrer Anteilnahme am Elend der Welt hat sie blau-gelbe Plastikfähnchen an beiden Seiten angebracht; ein Anblick den man sonst nur…

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Kopfüber

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Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man denken, die Welt sei in Wahrheit der zu groß geratene Kopf eines Kindes, das auf krummen Beinchen von einem Elend zum nächsten stolpert. Wo, möchte man fragen, sind die Eltern abgeblieben und warum scheren sie sich nicht darum, ob der klägliche Knirps von Kopfläusen und schmerzender Blödheit geplagt ist? Aber man weiß es ja besser, jeder weiß alles besser, jahrein, jahraus dröhnt einem schäfisch dahergeblöktes Besserwissen um den verlausten Schädel, während man vergeblich versucht, es sich in der Fontanelle zwischen flaumigem Babyhaar und Milchschorf gemütlich zu machen. Aber das gelingt einem nie,…

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Erzähl mir nix!

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„Heute“, sagte der glutäugige Jüngling zu Regina Pelzfuß, „will ich dir vom Steinadler erzählen.“ Er fasste ihre Hand und drückte sie, exakt an der Grenze zwischen sanft und fest, als wisse er genau, wo die sei. Regina Pelzfuß rutschte unbehaglich auf ihrem etwas in Jahre gekommenen Apfelhintern hin und her. „Vom Steinadler? Besser nicht. Erzähl‘ lieber was anderes! Vom Elefanten oder von einer Bahnfahrt.“ Sie sah zu der Klappe hinauf, die zum Dachboden führte, wo sie vor langer Zeit den Adler in den Schlaf gesungen hatte. Bestimmt würde er aufwachen, wenn von ihm die Rede war. Doch der junge Mann…

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Speed-Dating

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„Für jeden kommt der Tag, an dem man mehr Tote als Lebende kennt.“ „Was für ein Unsinn. Wenn man in jungen Jahren stirbt, oder gar als Baby, dann kennt man sicherlich mehr lebende Menschen – oder als Baby womöglich gar keine, außer der eigenen Mutter und der Hebamme.“ „Sie haben mich nicht ausreden lassen. Eine unschöne gesellschaftliche Entwicklung. Man fällt den Leuten ins Wort, sobald man Platz für Widerspruch entdeckt. Äußerst unschön.“ „Also gut. Wie geht es denn weiter? Das würde mich jetzt interessieren, was da noch kommen soll, damit etwas anderes als theatralischer Pomp entsteht.“ „Ach, lassen Sie es…

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