Das Zeitalter der Krähe

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„Wie man weiß, sind Krähen sehr intelligent, wenn auch nicht unfehlbar.“ So sollte eigentlich meine neueste Geschichte beginnen. Den Satz trage ich bestimmt schon seit sechs Monaten mit mir herum. Und ebenso lang erzähle ich auch schon, die Geschichte endlich schreiben zu wollen. Jüngst auch meinem Nachbarn Krause, der sich zur Gewohnheit gemacht hat, regelmäßig bei mir vorbeizuschauen, um zu sehen, ob ich etwas zu essen oder zu trinken benötige. „Wie weit bist du denn mit der Geschichte?“, fragte er mich und ich zuckte mit den Schultern. „Die wird, die wird“, antwortete ich etwas nebulös, darauf bedacht, Krause nicht direkt…

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Früher, ja früher

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Erinnerungen? Pah! Erinnerungen sind etwas für Privilegierte. In meiner Jugend waren wir so arm, wir konnten uns nichts Erinnernswertes leisten. Manchmal schlug uns der Vater mit einem Stock, aber auch nur, wenn er ihn nicht versetzt hatte, um der Mutter Lutschpastillen zu kaufen. An Festtage glaube ich schon mal gar nicht. Unsere Tage der Besinnlichkeit fingen immer erst im Januar an, wenn die Nachbarn ihre Tannen oder Fichten auf den Gehsteig warfen und wir sieben Kinder uns über die am Baum verbliebenen Nadeln hermachten, und mit neidischen und missgünstigen Blicken auf ihnen kauten, bis unsere kleinen Gaumen bluteten. Dieses Jahr…

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Zapfenstreich

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Seit einiger Zeit habe ich den Geruch von brennendem Holz in der Nase. Am Abend stehen Menschen beieinander und atmen Wolken in den Himmel. Ein Triller der Flöten, die Trommel wird geschlagen. Ich frage ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ob es riecht, was ich rieche. Es schüttelt den Kopf. Es kennt nicht die Gegenwart, wie sollte es, hat kaum Vergangenheit und unendlich scheinende Zukunft. Ich bin nicht jung, war es seit 40 Jahren nicht. Selber, selber, lachen alle Kälber, grüßen die Soldaten. Ära-Ende, Zeitenwende, was brennt, was kommt, kann keiner wissen.

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23

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Die Dreiundzwanzig. Warum die Dreiundzwanzig? Was hat es mit dieser ominösen Zahl auf sich? Oft werden mir Fragen wie diese gestellt, und ebenso oft antworte ich, dass das Mysterium der Dreiundzwanzig nicht in ein paar dahingeworfenen Erklärungen wirklich erfasst werden kann. Die Dreiundzwanzig ist nicht nur Zahl, nicht nur einfaches Quantitätssymbol, sondern Religion, Glaubensinhalt und Mittel zur Macht schon seit Jahrtausenden. Menschen und Tiere werden im Zeichen der Dreiundzwanzig geopfert. Die Dreiundzwanzig ist die Zahl der Weltherrschaft. Am Anfang meiner Beschäftigung mit der Dreiundzwanzig stand die Beobachtung, dass mir die Dreiundzwanzig leichter von den Lippen ging, als jede andere Zahl,…

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Kaum-Ich und Nicht-Ich diskutieren die Lage

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  K-I: Hör mal, wie meine Kniescheibe knackt. N-I: Schlimm. K-I: Wenn Du ein Selbstmordattentäter wärst, welches Ziel würdest Du wählen? N-I: In Deutschland, meinst Du? K-I: Ja, in Deutschland – was wäre Dir einen Angriff wert? N-I: Also es wäre bestimmt irgendwas in Berlin. Woanders lohnt es sich ja nicht. K-I: Der Kölner Dom vielleicht. N-I: Würde mich nicht jucken. Das ist doch das Problem des Föderalismus, es lohnt nicht, irgendetwas zu zerstören. Allzu viele allgemeingültige Ziele gibt es nicht. Ich meine, wem würde es außerhalb von Münster schon auffallen, wenn eine Atombombe die Innenstadt verwüstete? K-I: Oder Osnabrück….

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Currywurst-Klemens

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Habe ich euch eigentlich von Currywurst-Klemens erzählt? Ihr fragt, warum der so hieß? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ob es mit seiner Vorliebe für Imbissessen zusammenhing, ein seiner Diät geschuldeter Spitzname? Könnte sein, ich weiß es wirklich nicht. Ich erinnere mich aber auch nicht, ihn jemals eine Wurst essen gesehen zu haben. Jetzt, wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich ihn nie habe essen sehen. Es kursierten in unserem Kreis die seltsamsten Gerüchte und Anekdoten über Klemens, aber, soweit ich mich erinnere, hatten die nie im Geringsten mit Nahrungsmitteln zu tun: Da war die Geschichte mit dem…

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1. Person, immer Singular

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An einem anderen Tag setzte sich der, den ich als Ich kenne, über meinen ausdrücklichen Wunsch nach Veränderung hinweg und begann seinen Tag wie jeden Tag zuvor. „Augen auf und durch!“, war die Devise. Das Ich war Pharmareferent und Suppenkasper in Personalunion. Nicht aus Leidenschaft, beileibe nicht, doch aus Gewohnheit wie Sonnenauf-und Untergang. Doch ich greife vor, ich schweife ab und tadle mich beizeiten. Natürlich würde das Ich auch Kinder fressen, wenn es nicht verboten wäre. Es ist doch verboten, oder? Nicht, dass ich mich die ganzen Jahre zurückgehalten habe für nichts und wieder nichts. Das Ich liebt es ruhig…

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Aus den Ohren, aus dem Sinn

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Eigentlich liegt das Dröhnen des Lachens über meinen eigenen Witz sorgsam gefaltet und auch sonst schonend aufbewahrt in einer Kiste aus kaltem Metall. Doch heute schwirrt ein einzelnes Echo im Zimmer umher. Ich hasse Unordnung, denke ich und drehe mich unbehaglich auf meinem Bürostuhl herum. Das Echo ist derart leise, dass ich es kaum wahrnehme. Wer mich kennt, weiß, dass ich nicht so leicht zu erschüttern bin, aber dieser blasse Ton lässt mich erschaudern. Zum Teufel mit den feinen Sinnen! Er erinnert mich schmerzhaft an vergangene Unflätigkeiten. Dinge, die zu ihrer Zeit durchaus nicht unangemessen schienen, die, von heute aus…

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Prominenz und Obskurität

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An einem Tag, der sich so anfühlte wie der heutige, ging ein Mann, in Statur und Alter mir nicht unähnlich, über eine Straße, die auch meine hätte sein können. Auf der gegenüberliegenden Seite angekommen, blieb der Mann stehen, nahm die Zigarette, die hinter seinem Ohr klemmte, und zündete sie an. Zwei tiefe Züge und der Tag lächelte ihm freundlich zu. Eine Gruppe Schulkinder, angeführt von einer resolut wirkenden Mittzwanzigerin, ging an ihm vorbei. Er richtete sich zu voller Größe auf und verströmte Rauch wie Kessel voll mit heißem Teer. Der Mann hörte die Lehrerin sagen: „Und wenn ihr nicht aufpasst,…

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Im Viertel

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Das Leben da draußen hat schon wieder den Beiklang von Normalität. Menschen flanieren, Rentner durchwühlen die Mülleimer, zwei Medikamentenabhängige streiten um die letzte Tablette in der Packung, Rollerfahrer brausen vorüber. Ein Prediger im stockfleckigen Gewand richtet das Wort an die Passanten, die sich zögernd im Halbkreis um ihn sammeln. Man kennt ihn im Viertel. „Hört mich, Ehemänner und Geliebte! Hört mich, ihr, die ihr an den Brunnen steht und durstig ins Wasser seht, hört mich an! Ihr Darbenden, seid umarmt, ihr Armen der Welt! Ihr Hungrigen sollt gespeist werden, mit Worten wie Fladenbrot und Fisch, tausendfach soll euer Schmatzen die…

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