Kurzgeschichten

Kein guter Rat

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Wer die Leute verstehen will, muss sich ihre Schuhe ansehen. Das hat mir meine Großmutter von klein auf eingebläut. Sie selbst trug stets Kellnerinnensandalen, außer bei ihrer Beerdigung. Da zwängte man ihre schon steifen Zehen in ein Paar dunkelblaue Wildlederpumps mit einer prachtvollen Silberschnalle. Ich hörte nie auf ihre Ratschläge, aber diesen beherzige ich bis heute, und dass, obwohl sich bald herausstellte, dass es sich dabei um einen Irrtum handelte. So ist der Mensch eben. Was mein eigenes Schuhwerk angeht, bin ich nachlässig. Ob die Fußbekleidung der Jahreszeit oder dem Anlass angemessen ist, welche Farbe sie hat, oder ob sie…

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Ikarus‘ Flugstunde

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Und dann war da noch diese Frau, die mir zurief, ich solle die Schilder beachten. Ich dachte im Vorbeifliegen darüber nach, welche Schilder sie wohl meinte, doch als ich mich zu ihr umdrehte, um nachzufragen, war sie schon außer Rufweite. Und so flog ich und flog, bis die Nacht hereinbrach. In diesen Breiten geht das Schlag auf Schlag – eine Sekunde ist es taghell und in der nächsten kohlpechrabenschwärzeste Nacht. Ich hatte mir fest vorgenommen, auf jedwedes Schild zu achten – doch schon war es passiert: einen Wimpernschlag lang nicht aufgepasst und prompt gegen das einzige Schild im Umkreis von…

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Klassentreffen

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Zu den vielen Dingen, die man im Leben tut, obwohl man bereits vorher weiß, dass sie einem keine Freude bereiten werden, gehört der Besuch eines Klassentreffens. Beim Betreten des Lokals schlägt Hertha Pelzfuß der Geruch von alten Tapeten entgegen und ein Frauenlachen aus dem Hinterzimmer. Das muss die Schneller sein. Das Lachen fährt Hertha wie eine heiße Nadel in die Ohren, breitet sich in Wellen in ihrem Körper aus, und sie weiß, es wird nicht aufhören, ehe der Höchtlmeier mitlacht. Hertha Pelzfuß hängt ihren Mantel an die Garderobe und setzt sich an einen der wenigen freien Plätze am Tisch. Die…

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Südfrüchte

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Ein Springbrunnen – ohne Schmuck und Zierart, 16 schmale Fontänen, die das Wasser neun Meter in die Höhe spritzen – erinnert mich daran, dass in den Zeiten der Krise und der Zerstörung keine Kunst entstehen kann; sie wird nicht wahrgenommen. Kunst entsteht in den Zeiten der Fülle, der Sattheit. Eine Frau wühlt in ihren Taschen, eine Minute, eine zweite, eine fünfte, eine zehnte. Sie sortiert und kramt und blickt nur auf, um sich der Präsenz des Brunnens zu vergewissern, nur einen flüchtigen, richtigen Moment lang. Jetzt ist die Katze im Sack: nichts gilt mehr. Haubentaucher tauchen unter, viel zu sehen…

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Das Fass

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Beneidenswert, diese Leute, die vor nichts Angst haben. Der Tod, die Kellerasseln unter dem Blumentopf, die Aussicht auf Gehirnerweichung, ein Brief vom Amt oder Finsterlinge, die nachts in Hauseingängen herumlungern – nichts vermag sie zu schrecken. Sie plaudern ohne Schwierigkeiten mit Fremden im Lokal und springen an einem Gummiband vom Schiefen Turm von Pisa. Meine Base Micheline ist so eine. Bereits als Kind bewunderte ich ihre Unerschrockenheit, wenn sie dem Nachbarspudel lachend ihre Spielsachen aus den grausigen Fängen entwand oder sich den Fußbällen entgegenwarf, die der dicke Friedhelm aus dem Nachbarhaus mit der ganzen Wut seiner gehänselten Seele auf uns…

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Begegnung

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A: Sagen Sie, kennen wir uns nicht? B: Nicht, dass ich wüsste. A: Sie kommen mir so bekannt vor. B: Ich bin ein anderer Fettwanst – Sie verwechseln mich. A: Ich könnte schwören … B: Tun Sie es lieber nicht! A: Die Ähnlichkeit ist dennoch verblüffend. B: Für die Schlanken sehen wir Dicken doch alle gleich aus. A: Das können Sie jetzt aber so nicht sagen. B: Doch, doch, das stimmt schon. Ich weiß, was Sie sehen: Schwabbel, fettiger Teint, kleine Augen im speckigen Gesicht, Cellulite auf der Stirn. Ich sehe es doch, mein Anblick widert Sie an. A: Sie…

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Kindersegen

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Wer, wie Margit Pelzfuß, ein Kind nach dem anderen bekommt, dem stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht mehr. In jungen Jahren wurde sie von der Schwermut gequält, und um ein Haar wäre sie deshalb zur Unzeit aus dem Dasein geschieden. Doch gerade noch rechtzeitig stellte sich die Mutterschaft ein und damit ein Grund, jeden Morgen aufzustehen und den Tag fröhlich zu begrüßen. Begeistert von der Ablenkung, die mit der Fortpflanzung einhergeht, scharte Margit Pelzfuß zahlreiche Töchter und Söhne um sich. Die Väter stapelte sie in einem Wandschrank, denn sie war ordentlich, und man wusste ja nicht,…

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Die 15 und der Bischof

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Die 15 zog an einer Leine, die ihr der Bischof in die Hand gedrückt hatte und ein Fußball stürzte von der Glasdachkonstruktion eines Hochhauses auf die Erde. Die 15 schaute zum Bischof. „Was sollen denn diese Albernheiten?” Der Bischof hielt sich den Bauch, ließ sein Herrenlachen erklingen, und sagte: „Wenn das der Heilige Franz wüsste, der würde fluchen. Der würde schimpfen.” Die 15 ließ die Leine aus der Hand gleiten und nahm ein Stück Schinken aus ihrem Jutebeutel. Die 15 fettete sich die Hände ein, sie glänzten speckig im Junisonnenlicht. „Pauschal würde ich meine Taten nicht verurteilt wissen wollen. Nichts…

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Seltsame Attraktoren

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Vielleicht müssen wir nur noch eine Weile an den Stäben rütteln. Irgendwann wird schon jemand aufmerksam werden. Jemand, der die Verantwortung trägt. Sie wird ja zweifellos getragen, wenn auch heimlich, wenn nicht sogar im Geheimen. Das ist verständlich. Wer würde das schon offen zugeben? Man stolziert nicht auf und ab und ruft: „Ich bin zuständig!“ Nur Schwachköpfe und Knallprotze tun das. Die wahren Strippenzieher handeln im Verborgenen. Das kann man überall nachlesen. Und wer nicht lesen kann, lässt es sich vorlesen. Und wer niemanden kennt, der sieht sich einen Film an. Und wer keine Augen hat, verlässt sich auf sein…

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Maledictus II: Der Förster

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Genug Zeit ist jetzt vergangen. Fiktives strömt einem aus dem Mund, wenn man nur abwartet, den Kopf schief legt und die Lippen spitzt: Der Tag neigt sich seinem Ende entgegen; bestimmt wird gerade an einem anderen Ort die Ernte eingefahren; ein Landwirt grüßt auf dem Trecker gewiss den Förster, den er zwar nicht leiden kann, und den er diffus fürchtet, der aber immerhin mit ihm zur Schule gegangen ist (oder wie man damals sagte ‚der mit ihm zusammen die Schulbank drückte‘), der dann in die Stadt zog, um Forstwirtschaft zu studieren. Der Landwirt war Landwirt geworden, weil sein Vater schon…

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