Kurzgeschichten

Fotogen

By

An den Wänden Kalender vergangener Jahre, ein einzelnes Kinderbild daneben. Ich sei, so wurde es mir durch stete Wiederholung ins Bewusstsein geträufelt, ausgesprochen fotogen. Das muss etwas ganz besonders Gutes sein, so deutete ich die Blicke meiner Eltern auf die Bilder in den Papierumschlägen, die noch einen Hauch von Entwickler trugen. Lichterregend, so erklärte meine Schwester, sei das deutsche Wort für meine Eigenschaft, und das leuchtete mir ein, funkelte ich doch mit den Frühlingstagen um die Wette. Kaum dass ich auf Mitmenschen traf, erstrahlte ich, glühte förmlich, spendete Helligkeit und Wärme, als gäbe es kein Morgen. Heute verbringe ich die…

Read More

Das Cerebrummen

By

Dass der Mensch allein durch das Verstreichen von Lebenszeit immer klüger werde, ist ein beliebtes Motiv in einer Gesellschaft, die vom Wachstum besessen ist. Oft bekommt man zu hören, mit dem Alter käme die Weisheit oder hinterher sei man schlauer. Doch wer schon einmal seinen Schädel in Verzweiflung über den schlingernden Lauf der Welt gegen die metallumantelte Kante eines Küchenschränkchens geschlagen hat, wird widersprechen, sobald die bunten Punkte einem nicht mehr vor den Augen hüpfen. Das Gehirn ist ein leicht zu beleidigendes Organ. Beansprucht man es zu wenig, legt es sich schlafen und lässt sich nur schwer wecken, doch zu…

Read More

… außer man tut es

By

Ich lasse seit neuestem meinen inneren Schweinehund die Texte schreiben, die mir das Leben diktiert. Der sitzt dann statt meiner am Schreibtisch, während ich mich um andere Dinge kümmere. Ab und zu schaue ich bei ihm vorbei, frage höflich, ob ich ihm zu seinem Glück irgendwas reichen könnte, das Wasser etwa oder eine Handvoll getrockneter Linsen, und wenn er verneint, was er eigentlich immer tut, dann lasse ich ihn in Ruhe weiterarbeiten. Wenn er jedoch durstig ist oder einem kleinen Snack nicht abgeneigt, dann kommen wir wie heute ins Gespräch. „Worum geht’s denn?“, fragte ich unverbindlich. Der Schweinehund spülte die…

Read More

Die Krone

By

Normalerweise ernähre ich mich ausgewogen und vermeide Völlerei oder gedankenloses Schlingen. Aber hin und wieder überkommt mich das Verlangen nach dem Fett von Tieren mit viel Salz oder Zucker in Mengen, die weit über meinen Hunger hinausgehen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die glauben, sie würden beim Essen kein Leid verursachen, wenn sie auf Mahlzeiten aus Tierkadavern verzichten. Ich höre zu oft das Gras wachsen, um mich dieser Illusion hingeben zu können. Wer sich nicht auf die hohe Kunst der Photosynthese versteht, muss töten um zu essen. Und selbst darüber ließe sich gewiss mit einem Kohlendioxidmolekül streiten, wenn man…

Read More

Krankenbesuch

By

Zu Gast beim Elefanten, beim Verwandten, dem grauen Vorstadtdilettanten, dir Onkel in lebendem Angedenken will ich etwas schenken, mich bedanken, beim Onkel, beim Kranken. Das Teppichmesser singt, von Ferne klingt ein Lied wie schon zu Kinderzeiten. Du widersprichst, ich halte einen Finger vor die Lippen – wir wollen nicht streiten: Nicht am erdachten Horizont. Hohles Pfeifen, und am Himmel weiße Streifen, wir greifen nach ihnen, wieder einmal nach Wolken, nach Zahlen, nach Wahrscheinlichkeiten, ich schlucke angesichts deines Zustands den schalen Geschmack hinunter. Werde wieder munter, rufe ich beim Gang nach draußen dir noch zu. Du hebst die Daumen, wie zur…

Read More

Gestern

By

Ritze-Ratze Pfarrersfratze. So hieß das, glaube ich, damals, als ich noch ein Kind war und im Hof auf den rötlich-braunen Pflastersteinen mit den anderen Mädchen Gummitwist spielte. Vielleicht hieß es auch anders, mein Gedächtnis ist heute nicht mehr das, was es einmal war. Die Erinnerungen dehnen sich wie ausgeleierte Hosengummis, jeden Morgen finde ich sie ein bisschen weiter entfernt vor, nichts ist mehr an seinem Platz. Vielleicht haben wir auch gar nicht Gummitwist gespielt, sondern Völkerball, obwohl ich das nicht überzeugend finde, denn ich habe Völkerball gehasst und die Erinnerung – wenn es denn eine ist – fühlt sich fröhlich…

Read More

Auf dem Jahrmarkt der Einsamkeiten

By

GEWINNE * GEWINNE * GEWINNE Ich kann Ihnen gar nicht adäquat vermitteln, wie glücklich ich bin, Sie hier und heute begrüßen zu können. Hier, an diesem historisch bedeutenden Ort – heute, zu dieser festlichen Stunde. Waren Sie bereits bei uns in der Praxis oder begrüßen wir Sie zum ersten Mal? Das Hier und Heute, das Hier und Jetzt, das Hic und auch das Nunc. Geschwister wie Prinzipien wie Dur und Moll, wie Ex und Hopp. Komme, wer wolle, wer hat noch nicht, wer will noch mal, komm’se rein, komm’se näher, komm’se ran! GEWINNE * GEWINNE * Gewinnen Sie, wenn andere…

Read More

Eine andere Geschichte

By

Hinter der Theke in der Fleischerei steht eine Dame mit prächtig geschminkten Lippen. Ihre meerblauen Augen blicken sanft über die Berge aus Rippchen und Würsten. Wenn sie das schwere Messer anhebt, um Schnitzel aufzuschneiden, spannen sich die Muskeln unter der Haut ihres Unterarms, ähnlich wie sich die Muskeln der Sau gespannt haben müssen, als der Viehtransporter die letzte Kurve vor dem Schlachthof nahm. Mit einer lässigen Handbewegung lässt sie Schinkenscheiben von der Fleischgabel auf die Waage gleiten und die dünnen goldenen Armreifen singen dazu, wie Kaffeebohnen, die man in ein großes Glas schüttet. An sich esse ich nicht gerne Fleisch….

Read More

Späte Polemik gegen Nobelpreisträger G. „Ich habe das immer als Makel empfunden“ G.

By

Gras gefällig? Grass, die kaschubische Nachtigall, lehnt, auf die Pfeife im eigenen Mund weisend, das Angebot ab. Und vergisst darüber wieder einmal, einstige Zugehörigkeiten und die geleisteten Schwüre zu erwähnen. „Wer will mir das Wasser, den Kelch, den bis zum Rand mit Wasser gefüllten Kelch reichen?“ Scheint seine Haltung auszudrücken. „Bleibt mir bloß weg mit eurem Zeug, ich trällere nicht, ich trapse.“ Aber die Ernte, die Trommel, aber die Wörter! Aber die Worte und ihre Bedeutung, aber die Trommel. Mit zuckenden Waden. Und Zucker, wie Baisers. Mit Aalen und Köpfen – das ist Gold, literarisches Gold, dynamitpreisverdächtig. Wirklich keinen Zug…

Read More

Das Wechseltier

By

In letzter Zeit fühle ich mich seltsam. Die ersten paar Jahre dachte ich, das ginge von selbst vorüber. Es geht ja alles ständig von selbst vorüber, wie mein Vetter Sebastian nicht müde wird zu erwähnen. Da ich den Beginn des Jahres gerne nutze, um Dinge zu erledigen, die sich im Laufe des vergangenen zu einem unförmigen Haufen aufgetürmt haben, suchte ich meinen Hausarzt auf. Hin und wieder kann es nicht schaden, etwas anzupacken, dachte ich mir. Der Arzt brummte anerkennend vor sich hin, während er mich mit seinem Stethoskop abhörte und mit einem Lämpchen in meinen Hals und meine Ohren…

Read More