Kurzgeschichten

Tagores Traumgesichte

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Regen gräbt sein Loch in meinen Schlaf – ich zähle mein Schaf einmal, zweimal, viele Male. Mit Kreidestrichen auf einer eigens dafür vorgesehenen Tafel markiere ich die Runden, die es um mein Bett läuft. Wie es mit sich selber wettläuft. Wie es das abgeschüttete Fett säuft, das ich mir abends aus dem Körper zapfe. Jeden Abend das Getue mit dem Schlauch – aus den Schenkeln, Hoden, aus dem Bauch zapfe ich mir Rahm, bis die Eimer voll sind. Mein Schaf sagt immer: „Was ich toll find, ist die Regelmäßigkeit des Ganzen. Wie Schulden, Gezeiten und Wetter.” Leere Grütze graupelt Schauer…

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Vom Tuten und Blasen

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In den Gehörgängen drängen sich aufgeschnappte Aussagen. Später werden sie im stillen Kämmerlein auf Wahrheitsgehalt abgeklopft; mit goldenen Hämmerchen von den einen, mit mageren Fingerknöcheln von den anderen. Der Schamhügel ist der Kalvarienberg des kleinen Mannes. Es gibt ein klimaneutrales Ersatzprodukt für Menschlichkeit. Wenn man es nicht weiß, bemerkt man keinen Unterschied. Wir haben einen Überschuss an Pronomen. Trotzdem dürfen sie nicht einfach mitgenommen werden. Wenn das jeder machen würde. Hast du gehört? Ein Pronom. Das darf nie wieder geschehen. Es ist Zeit zum Aufstehen. Aber es ist doch erst halb fünf und ich bin noch so müde. Sollte sich…

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Lagerfeld und Puschkin

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Ich saß vor ein paar Monaten in Madame Ovarys Eckkneipe, da kam ein blasser Mann herein. Er stellte sich neben meinen Tisch und sah auf mich herab. Ich sagte, er solle mir aus der Sonne gehen, sonst würde ich ihm eins auf sein fettes Maul hauen. Er sagte: „Was erlauben Sie sich? Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?” Ich verneinte und er meinte, er sei Karl Lagerfeld, was mich nicht beeindruckte. Ich bat ihn trotzdem Platz zu nehmen. Vielleicht, so dachte ich mir, hat er ja etwas Aufregendes zu erzählen. Hm, da müsse er einmal nachdenken und fing im…

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Herrenbesuch

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Prisma Pelzfuß schnüffelte voller Misstrauen, als sie die Türe zu ihrer Wohnung aufschloss. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase, doch darunter waberte eine Mischung aus Mäuse-Urin, Marzipan und Balsamessig. Der Boden war mit altem Laub bedeckt und die Balkontür stand weit offen. Draußen war eine Unterhaltung im Gange. All das war höchst merkwürdig, war Prisma doch seit einer Woche nicht zuhause gewesen. Sie war sicher, Türen und Fenster verschlossen zu haben, als sie abgereist war. Sie ließ die Reisetasche laut auf den Holzboden knallen und das Gespräch auf dem Balkon verstummte. Nur das Gekecker der…

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Die reine Kunst

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„Ich erinnere mich an ein Gedicht“, sagt er und schaut sich wichtig im Kreise seiner Zuhörer um, „das ich, auf den Tag genau vor 31 Jahren, für meine verflossene Liebe schrieb.“ Das Publikum reagiert aufrichtig gerührt mit ‚Ahs!‘ und ‚Ohs!‘ Die Frauen wünschen sich an die Seite dieses einzigartigen Poeten und blicken mit an Abscheu grenzendem Widerwillen auf ihre mitgebrachten Partner. Wir Männer wollen sein wie er, würden die schlechte Haltung, die trockene Glatze, die abgewetzten Kleidungsstücke und die ausgetretenen Schuhe in Kauf nehmen; für die Liebe im Blick der Frau an unserer Seite wäre dieser Preis wahrlich nicht zu…

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An der Schwelle

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Defo, ein perlenbehangener schwarzer Hund, stets gewillt, es darauf ankommen zu lassen und stets bereit bis zum Äußersten zu gehen, senkt den Kopf und hechelt, knurrt in Maliks Richtung. Malik sieht den Seiber aus den Lefzen triefen und glaubt den nach Verwesung riechenden Atem noch aus fünf Schritten Entfernung wittern zu können. Er will sich abwenden, erinnert sich vergangener Begegnungen mit der Bestie. Defo war Malik beim ersten Mal als Welpe erschienen; damals hatte Maliks Verlobte noch in der Wohnung gelebt, sie waren durchaus glücklich gewesen, doch wenig später zerbrach die Beziehung – für Malik unvermutet, für seine Verlobte unvermeidlich….

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Ein dickes Ende

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Regine Pelzfuß schlüpft in ihre Sandalen und macht sich auf den Weg zum Supermarkt. Sie wird drei Pfund Kartoffeln kaufen, ein großes Stück Ziegenkäse und zwei Töpfchen Sahne. Das alles fehlt ihr noch für das Gratin. Regine mag zwar keinen Ziegenkäse, doch sie erwartet Besuch von ihrem Gefährten. Der hat eine Schwäche dafür und sie gedenkt, ihn in gute Stimmung zu versetzen, damit der Abend in erotisches Geschnupper münden möge, wiewohl Geschnupper mit Blick auf den Ziegenkäse kein allzu erotisches Bild entstehen lässt. Doch sie braucht nur an seine Schlüsselbeine zu denken und schon segelt sie auf einer schaumigen Woge…

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Bald geht’s lustig zu

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„Brich das Brot und sprich mit mir“, sagte eine, die zu mir kam, um, wie sie sagte, Dinge herauszufinden. Ich hatte den ganzen Nachmittag im Hinterhof gesessen, um bloß nicht die Viertelstunde Sonnenschein zu verpassen, die mir laut Mietvertrag zusteht. „Das ist doch kein Zustand“, rief sie und wies mit ihren Brüsten Richtung Zukunft. „Ich dachte, es geht weiter, immer weiter. Nichts und niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass es eines Tages vorbei sein könnte. Weißt du, was ich meine?“ Ich nickte und spuckte einen Kirschkern aus.

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Ein dünner Mann

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Jonas Schmitz umklammerte nervös seinen Bleistift, als er das Büro betrat. Gleich neben dem Eingang stand ein nackter Mann mit Buckel. Er lehnte sich zu Jonas herüber wie ein Chipeinsammler auf dem Jahrmarkt. Jonas fasste sich ein Herz und sprach den Buckligen an. „Bin ich hier richtig, um den dünnen Mann zu sehen?“ Bevor er eine Antwort erhielt, drängte sich eine dunkle Gestalt zwischen die beiden. „Es gehört ihm! Ihm gehört es!“, schrie der Finsterling und wies mit einem langen Finger auf Schmitz. Im Nu bildete sich eine ungehaltene Menschentraube um Jonas Schmitz und zahlreiche Augenpaare betrachteten ihn voller Misstrauen….

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Behördengang

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„Herein!“ Wilhelm Wackerstein sitzt am Schreibtisch und füttert einen Gecko mit Krumen. Wie soll ich sein Erstaunen beschreiben, als er sieht, wer zu seiner Tür hereinkommt? „Mensch, das ist ja eine Überraschung! Mit dir hätte ich jetzt wirklich nicht gerechnet. Wie lang haben wir zwei uns nicht mehr gesehen?“ Seine Freude ist echt – Wackerstein ist niemand, der sich gut verstellen kann und konnte. Das Tier auf dem Schreibtisch zermalmt Brotstücke und nickt. „Was kann ich denn für dich tun? Du besuchst mich doch nicht aus Höflichkeit.“ Da hat der scharfsinnige Mann natürlich recht; seit einem Zwischenfall vor einigen Dutzend…

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