Literarisches

Fingerling und Nasenring

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Zuuuuu-rückbleiben, bitte! Zurückgeblieben sind zwei Opiatsüchtige und ich. Einer von beiden kniet vor den Löchern des Gitters einer bewusst unbequem gestalteten Sitzgelegenheit in einem U-Bahnhof meiner Wahl und bereitet sich und seiner Suchtkameradin jeweils eine Dosis zu. Seine Hände zittern stark, doch ist sein Unwohlsein nichts im Vergleich zu ihrem. Die Hände seiner Begleiterin greifen graue Luft, die aus den Schächten, aus beiden Tunnelenden, auf den Bahnsteig gedrückt wird – ihr Körper zuckt. Konvulsion folgt Konvulsion, Krampf löst sich, wird von neuem Krampf verdrängt. – Mach! Mach! Mach! – Ich mach ja schon. – Schon reicht nicht. Wie lange noch?…

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Im letzten Moment

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Johanna Pelzfuß kann sich nicht für Bootsfahrten begeistern. Man sitzt unbequem auf einem häufig nassen Bänklein aus Holz oder Plastik und um einen herum gluckert und platscht es, als führe man im Magen eines Riesen dahin. Das stete Auf und Ab ist fad und unvorhersehbar zugleich, genau wie das Leben. Schon als Kind hatte Johnanna das Weite gesucht, wenn ihr Großvater sonntags rief: „Auf, auf, Nannerl! Wir machen eine Bootsfahrt mit dem Kaplan!“ Mag sein, dass der Kaplan Johannas Abneigung gegen alles Nautische noch befeuerte, wenn er mit aufgeblasenen Backen und schwitzendem Wanst die Ruder schwang und sie und den…

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Liebe-Liebe-Liebelei

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Er trat zu ihr und sprach: „Ich hab dir ein Gedicht geschrieben.“ Sie schaut ihn an und freut sich. Er hoffte auf Anerkennung. „Ich hab’s dabei“, sagte er. „Willst du es hören?“ Zwar hat sie gerade keinen Kopf für Lyrik, lächelt aber über den Umstand hinweg. Er faltete das parfümierte Blatt mit großer Geste und wichtiger Miene auf und hob an: „Oh Schönste! Aus des Schöpfers Stirn entsprungen bist ein Bild du nur und doch -“ Sie schaut ihn an, erwartet, dass er fortfährt und sieht das Entsetzen in seinem Blick. Er wurde blass und blässer, blähte die Backen und…

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Das Leid

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„Das Leid“, sagte der Mann, „lässt sich nicht messen. Denn das Leid ist eine persönliche Angelegenheit.“ Er ging mit schwungvollen Schritten den Bühnenrand entlang. In der Hand hielt er ein Kästchen, das durch Drücken der bunten Knöpfchen Bilder auf der Leinwand hinter ihm erscheinen ließ oder einen dünnen, roten Lichtstrahl ausspuckte, mit dem er auf wichtige Einzelheiten deuten konnte. „Wer nichts Schlimmeres kennengelernt hat, dem beschert ein eitriger Backenzahn unermessliches Leid, auch wenn eben jener Backenzahn dem hungernden Sklaven nur eine kleine Unannehmlichkeit bedeutet.“ Er bleckte seine weißen Zähne, die gewiss nichts von Eiter wussten, und hob einen manikürten Zeigefinger….

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Aus: Die fabelhafte Welt des Daneli – Ein Schelmenroman

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Er lag in seiner ihm eigenen sperrigen Grazie auf seinem Diwan, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die leere Zigarettenspitze zwischen den Zähnen, und diktierte einer ebenso schmalschultrigen wie schmallippigen Griechin wirre Wortfetzen, die diese eifrig in einem Heft niederschrieb. „Wendezeiten, Zeitenwende, Zeitenende, stocksteif gefroren und Jahrzehnte verpufft. Wer ruft, wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“ Verlegen und verloren stand ich mit roten Ohren im Türrahmen, unschlüssig, ob der große Meister durch meine Anwesenheit in seinen Gedankenwelten gestört werden dürfe. Doch er wies mir mit einem Augenzwinkern den Platz an seiner Seite zu und fuhr heiser knarzend fort, als…

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Fehleinschätzung

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Ich nenne zahlreiche Talente mein Eigen, doch Menschenkenntnis gehört nicht dazu. Auch mit Pflanzen kenne ich mich nicht aus, aber mein Alltag ist so eingerichtet, dass ich es selbst kaum bemerke. Gänseblümchen, Löwenzahn, Birke, Eiche, Weihnachtsbaum, mehr benötige ich in der Regel nicht. Meine Mitmenschen richtig einschätzen und beurteilen zu können, das wäre ein Sache, in der ich gerne Meisterschaft oder wenigstens vage Ahnung erlangen würde. Selbst von Letzterem bin ich himmelweit entfernt. Wo andere im menschlichen Miteinander über Vorhersehbarkeit und ewiggleichen Trott klagen, ist meine Überraschung kolossal. Nicht einmal den Zorn meines Vaters konnte ich vorhersehen, als ich ihm…

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Begegnung mit dem Gesundheitswesen

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„Ich hasse es, schlecht vorbereitet zu sein.“ Völlig unerwartet richtete der ältere Herr neben mir im Wartezimmer das Wort an mich, nachdem wir bereits 15 Minuten schweigend nebeneinander gesessen hatten. Ich blickte ihn aus meinem müden Gesicht an und nickte unwillentlich. Die Stimme des Mannes war heiser verschleimt. Er räusperte sich und fuhr fort: „Ich bin kein Unruhestifter oder Störenfried, beileibe nicht, aber wenn ich in meinen berechenbaren Gewohnheiten gestört werde, reagiere ich mitunter äußerst gereizt.“ Wieder nickte ich, das Gefühl kenne und teile ich. Auch ich konnte unwirsch werden, wenn sich meine Erwartungen nicht mit den Gegebenheiten in Übereinstimmung…

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Der Becher

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Viel zu selten kommt die Frage auf, worin eigentlich die Menschlichkeit besteht, gegen die immer wieder irgendein Bösling ein Verbrechen begeht. Die Leute senken betreten die Stimme oder heben sie voller Empörung – je nach Temperament – wenn sie über den Übeltäter sprechen, doch scheint die Menschlichkeit etwas zu sein, das nur sichtbar wird, wenn man sie schubst oder boxt. Im Alltag hört man kaum etwas von ihr. „Ich bin auch nur ein Mensch!“, pflegte mein Onkel Maximilian, Busfahrer und Sozialdemokrat, auszurufen, wenn meine Großmutter ihn rügte, weil er uns Kinder zwang, seinen käsigen Schwanz abzulecken. Gestern traf ich ihn…

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Auf der Galerie

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Ein neues Gesicht, 480 g Abtropflebendgewicht; mein Haus ist voller Löcher. Mit Gesichtern, die schweigend aus ihnen in den Hof glotzen. Obwohl ich sie nicht füttere, werden sie täglich fetter und fetter, kippeln nach vorne, lassen sich Doppel-Doppelkinne wachsen. Ein Haus mit Fenstern, mit Köpfen drin und jedem wächst ein Doppel-Dreifach-Vierfachkinn. Täglich werden die Tonnen geleert. Der Müll wird tonnenweise weggeschafft und aus dem Weg gekehrt. Ich gucke weiter, spucke in eine rostige Dose, in ein Schüsselchen voll Gold, murmle agnostische Gebete, die mir mein Vater auf seinem Sterbebett, an seinem Ehrentag, zum Schluss ganz ohne Pfeifentabakrauch, Zug um Zug,…

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Der Schwur

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Irgendwann erreicht man das Eierliköralter. Daran führt außer dem frühen Tod kein Weg vorbei. Eben stand man noch in einem muffigen Club am Rand der Tanzfläche und wackelte mit den Hüften, in der Hand ein Glas Buntes oder eine Flasche Bier, da findet man sich – ohne denkwürdigen Abschied – abends auf dem Sofa und schlürft das gelblich-zähe Zeug aus einem Schokoladenbecher zum Fernsehkrimi. Auch Isabella Pelzfuß erging es nicht anders, nur dass ihre Füße auch noch in dicken, zu Tigertatzen geformten Plüschpantoffeln steckten. „Warum auch nicht?“, rief sie aus, als ihr der Unterschied zu vergangenen Samstagabenden bewusst wurde. „Weil…

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